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Ausnahme: Talent

Die Sicht auf Talent hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Längst steht nicht mehr nur der Körper im Fokus, sondern auch die Psyche. Wie man Talent erkennt und was es braucht, um sich zu entfalten.

Sascha Nikolajewicz. Klingelt da was? Nein? Den wenigsten Menschen sagt dieser Name noch etwas – obwohl Nikolajewicz einst als Ausnahmetalent galt. In den 90er-Jahren wechselte der Fußballer mit nur 16 Jahren aus der B-Jugend des VfB Stuttgart zum italienischen Erstligaklub AC Turin. Doch nach diesem Wechsel wurde es ruhig um ihn. Weder im Ausland noch in Deutschland konnte er sich behaupten, bestritt nicht ein einziges Erstligaspiel und beendete seine sportliche Laufbahn wenig später. Im Gegensatz zu Nikolajewicz sind Namen wie Oliver Kahn, Andreas Möller oder Mehmet Scholl jedem ein Begriff. Auch diese Sportler galten als Talente. Doch sie konnten einlösen, was man sich von ihrer Begabung versprach. Was also macht die einen erfolgreich, während die anderen scheitern? Und wie erkennt und fördert man wahres Talent?

Egal ob Sport, Kunst oder Wissenschaft: Die Frage, was Talent überhaupt ist, beschäftigt Forscher, Trainer und Sponsoren gleichermaßen. Einig ist man sich darin, dass Talent eine besondere Begabung ist, die zu überdurchschnittlichen Leistungen auf einem bestimmten Gebiet befähigt. Diese Definition allein hilft allerdings nicht dabei, die Stars von morgen zu erkennen. Dazu braucht es mehr: Die Sicht auf Talent als ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Und Verständnis dafür, dass viele Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um es an die Spitze zu schaffen. 

Vielschichtig, veränderbar, vergänglich

Andreas Hohmann muss selbst mehrfach Talent bewiesen haben. In jüngeren Jahren spielte der Professor in der ersten Wasserball-Bundesliga, heute forscht er an der Universität Bayreuth im Bereich Leistungs- und Spitzensport. Der Sportwissenschaftler beobachtet, dass sich das Verständnis von Talent in den vergangenen Jahrzehnten erweitert hat. „Talent wird heute als veränderbar angesehen. Es ist abhängig von der individuellen Entwicklung und kann verloren werden.“ Außerdem würden nicht mehr nur körperliche Merkmale berücksichtigt, sondern auch psychische Faktoren, die Trainingsbedingungen sowie das soziale Umfeld. Wie wichtig die einzelnen Merkmale sind, darüber herrscht Uneinigkeit. Gestritten wird vor allem über die Frage, was für Spitzenleistungen entscheidender ist: Begabung oder Training?

Anders Ericsson, Psychologe an der Florida State University, behauptet: Mit genügend Übung kann es praktisch jedes Kind zum Olympiasieger, Startenor oder Nobelpreisträger bringen. Aus seinen Untersuchungen wurden Faustregeln abgeleitet, die den Weg zum Geniestreich aufzeigen sollen. 10 Jahre etwa müsse man üben, um die Meisterschaft auf einem Feld zu erreichen. 10 000 Stunden müsse man trainieren, um herausragende Leistungen zu erzielen. Dass diese Angaben wenig Gehalt haben, belegt eine Metanalyse amerikanischer Wissenschaftler. Sie zeigt, dass die Leistungen unserer Wunderkinder nicht nur auf früher und steter Förderung gründen. In der Musik lassen sich gerade mal 21 Prozent der Ausnahmeerfolge aufs Üben zurückführen, im Sport sogar nur 18 Prozent. Es braucht also vermutlich beides: Fleiß und Begabung. 

Eine Frage der Motivation

Das gilt auch, wenn man in eines der Juniorenteams des THW Kiel aufgenommen werden will. Sven Rusbült ist Jugendkoordinator beim Handball-Erstligisten und auf der Suche nach jungen Spielern mit dem Zeug zum Profi. „Talent“, sagt er, „kann man nur über einen längeren Zeitraum erkennen. Das macht die Sichtung so schwierig.“ Er könne sich nie 100-prozentig sicher sein und immer nur eine Prognose abgeben. Nicht nur die aktuelle Leistung sei entscheidend, sondern auch die Motivation. „Wir wollen Spieler, die von sich aus bereit sind, mehr zu tun als andere.“ Natürlich hätten große, kräftige Spieler im Handball einen Vorteil. „Aber entscheidender als die körperlichen Voraussetzungen ist die richtige Einstellung.“

Dranbleiben, sich quälen können, Misserfolge wegstecken – das zeichnet wahre Ausnahmesportler aus. „Grit“ nennt Psychologieprofessorin Angela Duckworth von der University of Pennsylvania diese Fähigkeit. Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit seien die wichtigsten Zutaten dafür, dass natürliche Anlagen zum Erfolg führen. „Weil diese Charakterzüge aber nicht für immer unveränderlich in uns verankert sind, muss Talent zu verschiedenen Zeitpunkten erfasst werden“, sagt Sportwissenschaftler Andreas Hohmann. Die früheste Sichtung setzt schon bei den 5- bis 7-Jährigen an. Bei sogenannten Bewegungschecks wie in Fulda, Frankfurt oder Düsseldorf werden die Grundschüler getestet. Die besten 15 Prozent sollen zum Leistungssport motiviert werden. Mit circa 12 Jahren findet dann die zweite Stufe der Talenterkennung statt, in Vereinen oder durch Verbände. „Das ist der späteste Zeitpunkt, um in den Leistungssport einzusteigen“, so Hohmann. „Im Alter von etwa 16 Jahren ist die Auslese schließlich abgeschlossen. Spätestens dann ist klar, wer die Voraussetzungen zum Profisportler erfüllt.“

„In der Breite fördern“

Dieser Auswahlprozess zeigt deutlich, welche Veränderung die Talentförderung in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Der Einstieg in den Leistungsbereich hat sich in das Grundschulalter verlegt und in fast allen Sportarten wird heute früher mit der Auswahl und gezieltem Training begonnen. Dabei kommen immer häufiger moderne Methoden wie Regenerationsverfahren oder mentales Coaching zum Einsatz. Neben diesem positiven Trend diagnostiziert Sportwissenschaftler Andreas Hohmann aber auch Entwicklungspotential: „Die Qualität der Trainer muss verbessert werden. Außerdem fehlt die Förderung in der Fläche.“ Zu viele Talente gingen verloren, weil etwa das passende Sportinternat zu weit entfernt von der Heimat liegt.

Problematisch ist auch der Übergang vom Jugend- in den Erwachsenenbereich. Hier sieht THW-Jugendkoordinator Sven Rusbült Nachholbedarf: „Viele können wegen des Trainingspensums nicht nebenbei arbeiten und sind auf finanzielle Hilfe angewiesen.“ Der Leistungssprung erfordert Zeit und hohen Einsatz. Wer dabei keine Geldspritze von der Familie bekommt, steht schnell vor dem sportlichen Aus. Denn selbst große Vereine wie der THW Kiel können nur ihre Toptalente unterstützen. „Es braucht langfristige finanzielle Mittel durch externe Geldgeber“, sagt Rusbült. „Nur so kann auch in der Breite gefördert werden. Und nur so kommen mehr Talente an der Spitze an.“ Stipendien wie die der Deutschen Sporthilfe sind aus der Sicht von Professor Andreas Hohmann deshalb essentiell.

Athleten in den Mittelpunkt stellen

Hilfestellung auf dem steinigen Weg zum Profisportler geben, dieses Ziel verfolgt auch das Konzept zur Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzensportförderung, das Ende 2016 von Bundesinnenministerium und Deutschem Olympischen Sportbund vorgestellt wurde. „Durch die Reform wollen wir Athleten und Trainer stärker in den Mittelpunkt stellen“, sagt Gerhard Böhm, Abteilungsleiter Sport im Bundesinnenministerium. „Wir hoffen, dadurch bei internationalen Wettkämpfen wieder erfolgreicher zu werden.“ Enthalten ist ein ganzer Maßnahmenkatalog zur Talentförderung und Nachwuchsarbeit. Künftig sollen etwa bundesweite Programme zur Talentsuche und -bindung eingeführt und die Vereinbarkeit von Sportkarriere und Ausbildung optimiert werden. „Alles in allem geht es darum, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich Talente möglichst erfolgreich entwickeln und in Wettkämpfen bewähren können“, sagt Böhm.

Entwickeln, bewähren – das ist Sascha Nikolajewicz nicht geglückt. Trotzdem blieb das ehemalige Ausnahmetalent dem Fußball erhalten. Nach seinem Ausscheiden war er unter anderem als Jugendkoordinator bei einem Karlsruher Amateurverein beschäftigt –  um dort neuen Talente zu finden.