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Reportage

Eine runde Sache

Warme Worte und rührselige Erinnerungen gehören zu einem runden Geburtstag wie die bucklige Verwandtschaft und Aperol Sprizz. Stoßen wir also an auf den Neunzigsten des Naturparks Karwendel.

„Liebes Geburtstagskind, liebe Gäste.“ Räusper, räusper. Eine Rede entfaltet sich auf eng bedrucktem A4-Papier. Ein Ruck an der Krawatte, ein kurzer Blick ins Publikum. „Wenn man, wie unser Jubilar, 90 Jahre hinter sich hat, ist es an der Zeit, zurückzuschauen.“ Bedeutungsschwangere Pause. Stille im Saal. Nur die Bedienung raschelt durch die Reihen. „Vor allem, wenn man wie du, lieber Naturpark Karwendel, so viel erlebt hat.“ Eifriges Nicken am vordersten Tisch. „Erinnern wir uns also gemeinsam, an die vielen kostbaren Momente, die wir mit dir teilen durften. Die besonderen Stationen deiner langen Geschichte. Und die Erlebnisse, die du so vielen Menschen in all den Jahren geschenkt hast.“ Tante Margit zückt präventiv ihr Taschentuch. Der Pfunderer Schorsch vom Kegelclub ordert schnell noch eine Halbe. Das, was jetzt kommt, könnte länger dauern. Oder zu Tränen rühren.

Zugegeben: Das Karwendel genießt nicht die gleiche Prominenz wie manche seiner Gebirgskollegen. Es hat nicht die historische Bedeutung der Dolomiten, nicht die Anziehungskraft der Zugspitzregion, nicht die Imposanz des Monte Rosa. Der Zustieg ist lang und der Schotter keine Zierde. Und doch hat es einen Grund, wieso sich ein Kletterpulli, ein Frischkäse, ein Stromtarif, ein Lammfell-Babysack und ein Trachtenstrumpf mit seinem Namen schmücken. Seine schroffen Zacken, mächtigen Grate, prächtigen Wände und stillen Wälder sind nicht nur dem Redner ans Herz gewachsen. Bevor er die alten Anekdoten heraufbeschwört, genehmigt er sich einen knappen Exkurs zur Vita des Jubilars.

„Wie ihr sicher wisst, liebe Gäste, ist der Naturpark Karwendel das älteste Schutzgebiet Tirols. Schon 1928 wurde es als Banngebiet ausgewiesen und einer strengen Verordnung unterstellt – eine Besonderheit für diese Zeit.“ Der Pfunderer Schorsch murmelt zustimmend in sein Bier. Tante Margit wartet gespannt auf ihren Einsatz. „Allerdings sollte dieses Schutzgebiet nicht primär die Natur bewahren, sondern das Eigentum schützen, drängten doch mehr und mehr Touristen in die alpine Bergwelt.“ 1989 wurden schließlich neue Ziele und die jetzige Ausdehnung festgelegt. Die Alpenpark-Verordnung regelt seither den Schutz aller wildwachsender Pflanzen und „freilebender, nicht jagdbarer Tiere“.

Mit einer Fläche von 920 km² umfasst der heutige Naturpark beinahe das gesamte Karwendelmassiv. Die elf Einzelgebiete auf der Tiroler Seite bilden zusammen mit dem bayerischen Teil des Karwendels eine der größten Schutzzonen der Ostalpen. In ihr leben mehr als 3.000 Tierarten, darunter besondere Exemplare wie der Steinadler, der Weißrückenspecht oder der Berg-Molch. Unzählige Pflanzenarten, Urwälder, Quellen und wilde Wasserläufe machen die Gebirgsregion zu einem Ort mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an natürlichen Lebensräumen. So können Besucher zu jeder Jahreszeit bestaunen, was Touristiker „die Wunder der Natur“ zu nennen pflegen: Leberblümchen am Fuß der Martinswand, Mehlprimeln im Falzthurntal, gelb leuchtende Aurikel an den Hängen der Ahrnspitzen. Die hohe Wände und tiefe Schluchten in der Karwendel-, Gleiersch- oder Wolfsklamm. Und natürlich: die knorrigen, teils 600 Jahre alten Ahornbäume am Ende des Risstal.

Der Redner bittet nun Sina Hölscher nach vorne, die viel von diesen Wundern erzählen kann. Als Rangerchefin zieht sie jeden Tag durch das Karwendel, gibt Führungen, kontrolliert Campierer und macht Erhebung zu Flora und Fauna. Blond, braun gebrannt und behände schlängelt sie sich durch die Reihen und ergreift das Mikrofon: „Für mich ist jeder Platz im Karwendel ein besonderer. Überall lässt sich etwas Spannendes entdecken, mal ist es eine uralte Lärche, mal ein kleiner Alpenbock-Käfer. Mal fasziniert mich das Wilde des Rissbachs, dann wieder das Rundum-Panorama auf einem der Gipfel.“ Tante Margit tupft sich mit spitzen Fingern erste Rührungstränen aus den Augenwinkeln. „Es geht für mich darum, mit offenen Sinnen durch die Natur zu gehen, sich einzulassen und zu genießen.“ Applaus schwappt durch den Saal. Die Blumendeko wackelt im Takt auf den Tischen.

Einlassen, genießen – ja, das geht im Karwendel gut. Das denkt sich eine der Geladenen, ganz hinten links im Raum vor einem leergegessenen Kuchenteller, und versinkt in den wohligen Bildern eines vergangenen Tages. Bildern von braunen Wiesenstricken und angezuckerten Gipfeln. Von dunklen Latschenflecken auf braun-grünen Weiden. Von einem goldenen Licht, wie es nur der Herbst zustande bringt. Mit Susi ist sie über den Gramai Hochleger zum Hahnkampl marschiert, weiter bis zur Lamsenjochhütte und hinauf zum Schafjöchl. Endlich hatten die Freundinnen es ausgenutzt, dass jede ihre Arbeit um die Freizeit herumbasteln kann. T-Shirt-warmes Wetter hatte sie an diesem Tag zu einer Wasserschlacht verleitet. Fast einsam genossen sie ihr Käsebrot auf der Terrasse der Hütte, die Fensterladen im Rücken schon verriegelt. Wie Honig an einem Löffelstiehl floss diese Zwischenzeit dahin, in diesem schmalen Fenster zwischen Sommer und Winter, das zu kleinen Brötchen zwingt. Die Tourenski noch im Keller, die hohen Ziele schon verschneit, hatte ihnen die Natur Genuss verordnet. Und Platz für neue Ziele geschaffen. Ziele? Langsam dreht das Bewusstsein der Frau die Worte des Redners wieder lauter.

„Das Ziel der ersten überlieferten, touristischen Besteigung war die Felsnadel der Frau Hitt im Jahr 1580.“ Der Redner ist nun bei den alpinistischen Ruhmestaten angelangt, auf die der Naturpark Karwendel zurückblicken kann. „Der bedeutendste Erschließer schritt allerdings fast 300 Jahre später zur Tat: In nur einem Sommer bestieg der Münchner Herrmann von Barth ganze 88 Gipfel.“ Der Redner hält inne, doch das beeindruckte Raunen bleibt aus. Tante Margit löffelt ihre Schokocreme und ratscht unbeirrt mit Gertrud, der Schwägerin vom Huber Alois, dem Schreiner, der gleich neben der Kirche wohnt. Also noch eine Schippe drauf: Bergsteigerische Meilensteine fliegen durch den Raum. Laliderer Wände, Otto „Rambo“ Herzog, Hallanger, Kaltwasserspitze, Auckenthaler-Weg verpuffen im Saal. Das Stimmengewirr wird lauter, Gesichter wenden sich ab. Der Vortragende zieht seinen entscheidenden Trumpf: „Das Wort hat nun Heinz Zak, einer der besten Freunde und Kenner des Karwendels.“ Augenblicklich ist es still. Triumph umspielt das Lächeln des Redners.

Tatsächlich wäre eine Geburtstagsfeier des Karwendels undenkbar ohne einen Toast von ihm. Heinz Zak ist auf jedem einzelnen Gipfel der vier Hauptketten gestanden, hat drei der Ketten im Winter im Alleingang überschritten, ist mit Peter Gschwendtner an einem Tag dreimal durch die Laliderer Nordwand geklettert und konnte viele der schwierigsten Routen des Karwendels erstbegehen. Zu diesem Ehrentag hat der Kletterer und Fotograf sein schönstes Kopftuch herausgekramt. „Das Karwendel ist meine Bergheimat. Sie ist mir so vertraut wie kein anderer Fleck der Erde und doch entdecke ich immer wieder Neues.“ Tante Margit schaut so verzückt auf diesen schneidigen Kerl, dass sie versucht wäre, Kusshände in seine Richtung zu werfen, müsste sie sich dafür nicht von ihrem Löffel trennen. „Das Karwendel bietet so viele schöne Plätze und unbekannte Ecken. Es ist weitläufig, groß und undurchsichtig, deshalb finde ich dort noch echte Freiräume. Es lohnt sich jedes Mal wieder für mich, in diese Bergwelt aufzubrechen.“

Während der Pfunderer Schorsch darauf einen trinkt, muss die Frau links hinten an eine weitere Karwendel-Tour denken. Zu viert waren sie zur Vorderen Brandjochspitze aufgebrochen – mit Susi wieder und ihren zwei Kerlen. Heiß war es an diesem Tag und drückend die Luft in den Wäldern. An Innsbrucks Rändern schraubten sie sich in die Höhe, gemütliche Wege führten sie über den Achselkopf zur Achselbodenhütte und weiter zum Brandjochboden und dem Brandjochkreuz. Von dort turnten sie über den Südgrat weiter. Mal suchten die Hände felsigen Halt, dann tappten die Füße immer selbstbewusster vorwärts. Flow nennt man den Zustand wohl, wenn sich Herausforderung und Sicherheit die Waage halten und der Kopf keine Vergangenheit und Zukunft mehr kennt. Nur einmal, da hatte das Fließen ein Ende. Als ein großer Spreizschritt gefragt war und die kurzen Beine streikten, zückten größere und unerschrockene Gefährten das Seil. Am Gipfel der Vorderen Brandjochspitze dann fiel der Blick zurück ins Tal. Sie waren der Stadt so nahe und doch so weit weg. Freiraum, wo man ihn nicht zu suchen wagt.

Freiraum auch, der jeden Sommer eine Millionen Besucher anlockt. Und knapper wird. Erst kürzlich habe er in der Zeitung gelesen, erzählt der Schorsch seinem Kegelkollegen, dass wahrscheinlich immer mehr Leute in die Berge kommen werden. Ein Geograph von der Universität Innsbruck habe die Karwendelregion untersucht und prophezeit, dass die globale Erwärmung die Urlauber von der Mittelmeerküste bald in die kühleren Alpentäler treiben werde. Schon jetzt, so sei es im Artikel gestanden, gäbe es immer mehr Störungen abseits der Wege: durch Mountainbike-Trailfahrer, Drohnenflüge, Events mit Biwak und Feuerstellen. Kopfschüttelnd wenden sie sich die Herren wieder dem Podium zu.

Bernd Eberle macht sich dort bereit. Auch sein Grußwort darf bei dieser Feier nicht fehlen. Schließlich ist der drahtige Mittfünfziger Autor eines Karwendelführers, Leiter der Bergschule Alpenwelt Karwendel und ein Urgestein der Scharnitzer Gegend. „Als Bergführer bringe ich meinen Kunden das Alpinklettern am Hallangerhaus bei oder führe sie über den Mittenwalder Höhenweg. Aber auch privat bin ich gerne und viel im Karwendel unterwegs. Es liegt ja vor meiner Haustüre.“ Sein Lächeln ist so einnehmend, dass selbst der Pfunderer Schorsch kurz überlegt, ob er nicht auf seine alten Tage noch zum Bergsteiger mutieren sollte. Zum Glück ist er gleich wieder abgelenkt, als Eberle fortfährt: „Ich schätze am Karwendel sehr, dass die Täler für Autos verschlossen sind. Die langen Zustiege sind nicht jedermanns Sache, darum gibt es genügend einsame Ecken, die zum Entdecken einladen.“

Wenn man sie findet, denkt sich die Frau links hinten und schmunzelt still. Ihre erste Tour im Karwendel fällt ihr wieder ein. Es war ein milder November, der Schnee ließ auf sich warten und die Hütten hatten zu. In dem Winterraum der Lamsenjochhütte könnte man doch übernachten, schlug der Begleiter vor. Und am nächsten Tag zur Lamsenspitze klettern. Also los, an einem Freitagabend. Gnocchi, Zwiebeln, Speck und Käse im Gepäck, stapften sie gemütlich durch das Stallental hinauf. Schon aus einiger Entfernung waren Menschen vor der Hütte zu sehen. Mit eiligen Schritten nahmen sie die letzten Meter und ergatterten zwei der Winterraum-Betten.

Kaum brutzelte der Speck auf dem Ofen, kamen weitere Anwärter hinzu. Ein sendungsbewusster Bergwachtler in Zivil, ein Rasta-behaupteter Biologiestudent, zwei Väter mit ihren todmüden Söhnen. Die Bilanz am Ende des Abends: 15 Menschen für sechs Betten. Kurzerhand zogen drei Unverfrorene auf die Terrasse um, der Rest kuschelte sich jeweils zu zweit auf eine Matratze und genoss das Saunaklima der Stube. Entschädigt wurden sie am nächsten Tag – beim Abstieg durch das Vomper Loch. Nur der Biologie-Rastafari begleitete sie durch die wilde Schlucht mit ihren rauen Wänden. Und während er ihnen den Unterschied zwischen Latschen- und Zirbelkiefer erklärte, wuchs ihr Staunen mit jedem Schritt bergab.

Der Tischgefährte der Frau greift zum Wein, gießt nach und hebt sein Gas. „…darauf stoßen wir an!“, hört sie den Redner noch sagen. „Auf das Geburtstagskind!“ Auf das Geburtstagskind, prostet der Saal, froh, endlich offen gähnen zu dürfen. Und auf all die Erinnerungen, die ich ihm verdanke, denkt sich die Frau. Die Schinkennudeln auf der Hochlandhütte, zu denen es Ketschup gab. Die Gewitterflucht von der Schöttelkarspitze, die Elmars Knie ramponierte. Die dekadente Brotzeit auf dem Juifen, mit grandiosen Wolkenspielen serviert. Tiefsinnige Gespräche mit Mats am Schafreuter, Schnapseln mit den Kollegen auf dem Soiernhaus, Weitblicke an der östlichen Karwendelspitze, Konditionserfolge bei der Soiern-Umrahmung. Die Frau packt ihre Tasche und schlendert der Türe entgegen. Tante Margit schwooft noch über das Parkett, während der Pfunderer Schorsch bierselig in seinem Stuhl döst. Langsam lichten sich die Reihen. „Pfiads eich“, „Servus“, „Feiert noch schön“, „Bis bald mal wieder“ summt es durch den Raum.

Im Foyer fällt ihr Blick auf ein Gästebuch. „Wünsche für den Jubilar“ ist auf dem Einband zu lesen. Bedächtig blättert die Frau durch die Seiten. Sina Hölscher etwa schreibt: „Aus Sicht der Naturpark Ranger wünsche ich mir, dass die Schutzgebietsarbeit noch mehr Unterstützer findet. Außerdem wäre es schön, wenn alle BesucherInnen noch mehr Bezug zu diesem besonderen und einmaligen Naturjuwel haben würden. Respekt und Wertschätzung in umgesetzter Form, auch wenn das bedeutet, sich selbst einmal zurücknehmen zu müssen und mehr für das große Ganze zu denken.“ Drei Blätter weiter hat sich Bernd Eberle verewigt: „Ich wünsche dem Karwendel, dass die touristische Erschließung nicht weiter zunimmt und dass der Naturschutz weiter vorangetrieben wird.“ Und auf der vorletzten Seite hat Heinz Zak notiert: „Ich wünsche dem Karwendel einfach, dass es so bleibt, wie es ist.“ Die Frau greift zum Stift, überlegt einen Moment und beginnt dann, zu schreiben: ein Zitat von Herrmann von Barth, dem Karwendel-Erschließer. „Auch lade ich den Leser ein, mich zu begleiten auf einsamen Pfaden in ungekannte Felswüsten, auf ungenannte Zinnen. Vielleicht dass Einer doch sich findet, der in künftigen Sommern ein Gleiches thut, – thun will – es könnten es Viele.“