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Die Wanderflieger

Zu Fuß zum Gipfel, per Gleitschirm zurück ins Tal - oder auf den nächsten Berg. Beim "Hike and Fly" verbinden Sportler Bergsteigen und Gleitschirmfliegen.

Gut 12.500 Höhenmeter über die Alpen. Bei zweistelligen Minusgraden, Nebel und Lawinengefahr, allein, einen vollgepackten Rucksack auf dem Buckel: Das nennt Lissi Seibt einen "lang gehegten Traum". Ende Februar hat sie ihn verwirklicht und sich in acht Tagen von Aschau bis nach Bruneck gekämpft, 200 Kilometer zu Fuß, auf Skiern - und mit dem Gleitschirm.

"Hike and Fly" heißt die Disziplin, für die sich auch Kilian Draeger begeistert, der seit vielen Jahren mit Bergstiefeln und Gleitschirm die Alpen erkundet. "Hike and Fly ermöglicht mir, an Orte zu kommen, die ich als Fußgänger nie erreichen würde. Ich kann entlang schroffer Felswände fliegen, über klare Bergseen oder dichte Wälder. Passt der Wind, drehe ich auf und lande ein, zwei, drei Berge später wieder, um dort Brotzeit zu machen", sagt der 32-Jährige.

Die Kombination aus Bergsteigen und Fliegen ist nicht ungefährlich. Etwa zehn Todesopfer und 120 Schwerverletzte verzeichnet der Deutsche Hängegleiterverband (DHV) jedes Jahr. Wie viele Unfälle davon fliegende Bergsteiger betreffen, wird nicht erfasst.

Am Anfang steht eine umfangreiche Flugausbildung

Fest steht aber, dass beim Hike and Fly sowohl der Aufstieg als auch der Abflug Risiken bergen. Wer in Luftlinie absteigen will, braucht neben alpiner Erfahrung, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit auch eine umfangreiche Flugausbildung. In dieser üben Piloten in spe das Starten, Landen und den Umgang mit dem Schirm. Hinzu kommen Theoriestunden, etwa in Flugrecht, Gerätekunde oder Meteorologie. Am Ende steht eine Prüfung, die bestehen muss, wer in Deutschland in die Luft steigen will.

Lissi Seibt hat all das hinter sich. Sie kennt die Alpen von klein auf und entdeckte vor vier Jahren den Gleitschirm als Abstiegshilfe für sich. Bei Wettkämpfen zählt die 33-Jährige mittlerweile zu den besten deutschen Frauen. Fünfmal pro Woche trainiert Seibt in den Bergen, bei Läufen, Ski-, Mountainbike- oder Klettertouren. An fast 250 Tagen im Jahr ist sie außerdem in der Luft. Dieses Pensum stemmt sie neben ihrem Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Rosenheim. "Mich reizt am Hike and Fly, dass es das Bergerlebnis und die Faszination des Fliegens auf spannende Art verbindet", sagt sie. "So wird aus jedem Trip ein neues Abenteuer."

Auch Kilian Draeger ist sich der Risiken bewusst. "Beim Hike and Fly muss der Pilot selbst beurteilen, ob und wann er sicher fliegen kann. Er muss das Wetter, die Windbedingungen und die möglichen Start- und Landeplätze einschätzen können."

Denn für fliegende Bergsteiger ist das Risiko weniger berechenbar als für den "normalen Hausbergflieger", wie Kilian Draeger die Piloten nennt, die die offiziellen Startplätze mit Berggondeln erreichen und an den Windfahnen sehen, wie die Flugbedingungen sind.

Im Zweifel lieber den Schirm den Berg heruntertragen

Bevor er aufbricht, schaut Draeger im Internet auf verschiedene Wetterkarten und Satellitenbilder. Mithilfe der Geländeansicht schätzt er ein, welche Tour sich bei dem vorhergesagten Wind eignet, an welchen Hängen er starten und auf welchen Wiesen er landen könnte.

"Ein guter Flieger ist aber der, der trotz aller Planung bereit ist, seinen Schirm auch wieder den Berg hinunterzutragen", sagt Draeger. Denn beim Hike and Fly abseits der Bergstationen zeige sich im Zweifel erst in der Luft, ob die zuvor aufgestellten Theorien über Thermik, Luv und Lee tatsächlich zutreffen. Falls nicht, kann der Ausflug schnell zu einer ungemütlichen Hängepartie werden. "Beim Start kann eine Böe dafür sorgen, dass es dich aushebelt und du den Schirm nicht mehr kontrollieren kannst", spricht Draeger aus eigener Erfahrung. "Beim Landen wird es heikel, wenn du wenig Platz und Rückenwind hast." Lebensgefahr droht, wenn ein Pilot die Wetterlage falsch beurteilt und in Turbulenzen kommt. Oder wenn er vergisst, seine Beingurte zu schließen.

Auch wegen dieser Risiken ist Hike and Fly ein Randphänomen. Von den etwa 30.000 Gleitschirmfliegern, die im DHV organisiert sind, ist höchstens jeder Fünfte dabei, schätzt Draeger. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Die Flugausrüstung wird immer kompakter

Lissi Seibt erzählt, dass die Szene von Jahr zu Jahr größer wird. "Das Interesse an Outdoorsport wächst, und die Flugausrüstung wird immer kompakter und leichter, deshalb hat der Sport gerade enormen Zulauf." Musste man früher noch mindestens 15 Kilogramm bergauf tragen, ist Hike and Fly heute mit fünf bis acht Kilo Gepäck möglich.

Diese Entwicklung macht sich auch im Wettkampfbereich bemerkbar. "Da drängt gerade eine starke, junge Generation nach", sagt Seibt. Bei Rennen brauche es neben einer guten Flugtechnik auch bergsteigerisches Können, mentale Stärke, taktisches Geschick und Kondition.

Wer nicht vom Berg kommt, schläft auch mal unter freiem Himmel

Über viele Höhen- und Kilometer hinweg tragen die Sportler etwa zehn Kilogramm auf dem Rücken: ihren Gleitschirm, Sicherheitsausrüstung, Kleidung, Essen und Trinken. Ein Unterstützer begleitet den Athleten mit dem Auto und versorgt ihn mit Proviant, Equipment und Informationen. Auch den Übernachtungsplatz bietet das Supportfahrzeug. Kommt der Sportler nicht rechtzeitig vom Berg, muss er in Hütten oder unter freiem Himmel schlafen.

In Extremform ist diese Art des Wettkampfs jährlich bei den X-Alps zu bestaunen, der inoffiziellen Hike-and-Fly-Weltmeisterschaft. Dabei gilt es, nur mithilfe des Windes und der eigenen Muskelkraft von Salzburg nach Monaco zu kommen - eine Strecke, die mehr als 1100 Kilometer misst. In gerade einmal zehn Tagen, 23 Stunden und 23 Minuten bewältigte der Schweizer Chrigel Maurer beim letzten Rennen diese Distanz. Mit dem fünften Sieg in Folge ist er der unangefochtene Star der Wanderflieger.

Irgendwann wird sich Lissi Seibt vielleicht einmal in Salzburg neben ihn an die Startlinie stellen. In der Zwischenzeit sammelt sie Erfahrungen bei anderen Wettkämpfen. Im August etwa wird sie beim Dolomity Super Fly sieben Tage lang durch die Alpen rennen und fliegen. 260 Kilometer Luftlinie. Ein Traum.

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