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Feature

Einfach leben

Wie schön wäre es, man könnte den Ballast der Konsumgesellschaft abwerfen und sich auf das Wesentliche reduzieren. Ein Wunsch, der nicht neu ist. Und doch noch nie so aktuell wie heute war.

 

2,5 mal 6,5 Meter. 16 Quadratmeter. Auf dieser Fläche wohnt Hari Berzins mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. 2011 ist die Familie in ihr Tiny House gezogen. In ein „Kleinsthaus“ auf Rädern, das seine Bewohner zum radikalen Verzicht zwingt und maximale Freiheit verspricht. Um mit dem wenigen Platz auszukommen, den ihr winziges Zuhause bietet, kauft die Familie nur das Nötigste ein. Bücher werden ausgeliehen, Obst und Gemüse angebaut, Klamotten umgenäht. Trotzdem: Ihr einfaches Leben ist für Hari Berzins das Gegenteil von Entbehrung. „Unser Leben wurde sehr viel reicher, seit wir auf jeglichen Luxus verzichten und uns auf das Wesentliche reduzieren.“

 

Downshifting, Minimalismus, Simplifying – für den Lebensstil, den die Berzins gewählt haben, gibt es viele Namen. Sie alle bezeichnen eine Haltung, die dem ständig wachsenden Überfluss das Prinzip „weniger ist mehr“ entgegensetzt. Die in einer als stressig und materialistisch empfundenen Zeit die Einfachheit zelebriert – in vielerlei Spielarten. Während einige als Aussteiger und Selbstversorger ein möglichst autarkes Leben führen, genügt es anderen, auf das Auto oder den Fernseher zu verzichten, die Arbeitszeit zu reduzieren, Klamotten zu tauschen oder in Stadtgärten Tomaten anzubauen. Wieder andere bemühen sich, keinen Müll zu produzieren und Dinge zu reparieren, anstatt sie wegzuschmeißen. Sie alle verbindet die Idee des Beschränkens, Selbermachens und Teilens. Die Idee des sogenannten „lifestyle of voluntary simplicity.“

 

Doch so hip die Schlagworte auch anmuten, mit denen der Ansatz heute betitelt wird: Die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Dekadenz und Konsumzwang ist keine Erfindung der Moderne. Schon in der Antike galt das bescheidene Leben als eine Tugend. Auch im Christentum, Hinduismus und Buddhismus spielt der Verzicht auf materielle Güter seit jeher eine wichtige Rolle. Und lange bevor Tiny Houses über die Straßen rollten, protestierten die Hippies der 60er- und 70er-Jahre mit ihrer Konsum- und Leistungsverweigerung gegen das spießbürgerliche Establishment.

 

Trotzdem hat sich etwas grundlegend verändert. „Der heutige Trend ist eine Reaktion auf etwas historisch Einmaliges, auf einen nie dagewesenen materiellen und informationellen Überfluss“, erklärt Prof. Marcel Hunecke, Psychologe mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Fachhochschule Dortmund. „Erst seit zwei, drei Jahrzehnten leben viele Bewohner der hochindustrialisierten Länder in einem solchen Wohlstand. Früher hatte nur ein kleiner Teil der Gesellschaft diesen Luxus, während die Mehrheit gegen den Mangel ankämpfen musste.“ Auch heute könne man nicht von einem Massenphänomen sprechen, doch sei die Gruppe derer, die sich nach einem einfacheren Leben sehnten, nie größer gewesen. Fünf bis zehn Prozent der Gesellschaft, so schätzt Hunecke, setzen sich mit alternativen Lebensmodellen und Fragen der Nachhaltigkeit auseinander. „Ihnen geht darum, sich unsinniger Konsumzwänge zu entledigen und aus dem Hamsterrad aussteigen.“

 

Mit diesem Bedürfnis landen einige von ihnen bei Arnd Corts. Der Coach hilft seinen Klienten auf dem Weg in ein weniger komplexes und überforderndes Leben. In seine Praxis kommen vor allem Menschen, die beruflich schon viel erreicht haben und finanziell gut dastehen. Zunehmend fänden aber auch junge Menschen zu ihm, die gar nicht erst in die Tretmühle geraten wollten und eine vorweggenommene Sinnkrise durchlebten, so Corts. „Ihnen geht es um erfüllte Beziehungen, Freizeit und Sinn, nicht um Einkommensmaximierung.“ Seine Klienten fragten sich: Warum Freiheit gegen Geld eintauschen? Warum Geld erwirtschaften, um sich davon Dinge zu kaufen, die keiner braucht? Warum dabei Ressourcen verschwenden, die die Welt nicht übrig hat? Ihr Deal: Sinn, Freiheit und Zeit gegen Besitz, Prestige und Stress.

 

Psychologische Studien geben den Downshiftern, Simplifyern und Minimalisten Recht. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass uns materieller Wohlstand nicht glücklich macht, wenn er nicht mehr dazu dient, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Im Gegenteil: Zu großer Besitz belastet uns sogar. Und auch unabhängig von unserer seelischen Gesundheit gibt es gute Gründe dafür, das eigene Arbeits- und Konsumverhalten zu hinterfragen. Berichte über Massentierhaltung, menschunwürdige Produktionsbedingungen, Lebensmittelverschwendung, Umweltverschmutzung und den Klimawandel legen uns nahe, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt.

 

Einfach ist der Schritt in das einfache Leben dennoch nicht. Überall warten die Verlockungen der Konsumgesellschaft, die uns Bequemlichkeit, Status und Fortschritt verheißen. „Die gesellschaftliche Tiefenströmung ist ja die der Expansion: weiter, schneller, höher, mehr“, so Hunecke. „Sich dem zu widersetzen erfordert, dass man einen guten Kontakt zu sich selbst hat, die eigenen Bedürfnisse reflektiert und achtsam gegenüber den eigenen Grenzen ist.“ Trotz dieser Schwierigkeiten war das einfache Leben nie so einfach wie heute. Egal ob Carsharing, Mitfahrgelegenheiten, Online-Tauschbörsen, Musik- oder Filmstreaming – die Möglichkeiten des Internets erleichtern uns den bewussten Verzicht enorm. Upcycling- und Do-It-Yourself-Blogs geben außerdem Anregungen, bieten Hilfestellungen und vernetzen Gleichgesinnte.

 

Wer es den bloggenden Vorreitern nachtun will, dem rät Arnd Corts, nicht gleich von heute auf morgen das ganze bisherige Leben umzuschmeißen. „Meist ist es schlauer, planvoll und schrittweise vorzugehen.“ Denn: „Es muss nicht der große Knall sein, auch kleine Veränderungen machen zum Teil einen großen Unterschied.“ So gibt manchen Klienten schon ein Homeoffice-Tag pro Woche das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle zurück. Anderen hilft bereits ein Ehrenamt, wieder mehr Sinn und Erfüllung zu erleben. Um herauszufinden, welche Schritte es braucht, sollten wir in eine innere Klausur mit uns selbst gehen, empfiehlt Corts. Wir sollten uns fragen: Was will ich und was brauche ich? Und welche Ressourcen habe ich, um das zu erreichen? „Der innere Schrei nach Freiheit verlangt schließlich eine ehrliche, innere Antwort.“

 

Und die wird bei jedem anders ausfallen. Denn es gibt nicht den einen heilsbringenden Weg in ein Leben jenseits von Burn-out, Rushhour und 24/7 Performance-Druck. Jeder muss für sich selbst entscheiden, auf was er verzichten möchte und was er für ein zufriedenes Leben braucht. „Es geht um Reflexion und Vielfalt, nicht darum, neue soziale Normen zu schaffen“, so der Psychologe Marcel Hunecke. Oder wie Tiny House-Besitzerin Hari Berzins meint: „Einfach leben bedeutet nicht, dass du auf 16 Quadratmeter leben musst. Entscheidend ist, wie du den Raum um dich herum nutzt und mit was du ihn füllst. Mit Leben oder mit Dingen.“ Sie wird mit ihrer Familie in ein größeres Haus ziehen – und ihr einfaches Leben behalten.