Volle Sitzreihen, die Treppen eng besetzt, und selbst an den Türen stehen noch Menschen: Die Bilder von überfüllten Hörsälen und komplizierten Vorlesungen haben in den vergangenen Jahren nicht abgenommen. Die steigenden Studierendenzahlen haben immer wieder zu zahlreichen logistischen Problemen geführt. Deswegen verlagern immer mehr Universitäten und andere Bildungseinrichtungen ihr Angebot ins Internet.
Damit hinkt Deutschland einem Trend hinterher: In den USA wurde schon in den 90er-Jahren damit begonnen, Studienangebote auch für ein breiteres Publikum im Internet verfügbar zu machen. So ist die Universität Princeton, eine der amerikanischen Eliteuniversitäten, dort auch die führende Einrichtung für das virtuelle Studium. Allerdings, erklärt Sebastian Horndasch vom Stifterverband der deutschen Wissenschaft, hat das gute Gründe. In den USA ist ein Studium noch immer mit immensen Studiengebühren und hohen Krediten verbunden. Preiswertere Alternativen, wie zum Beispiel Internetkurse, sind deshalb sehr gefragt.
Außerdem gibt es in Deutschland ein dichtes Netz von Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten. So ist in jeder Region eine Bildungsstätte komfortabel erreichbar. Auch das ist in den USA anders, wo in weiten Landstrichen kaum eine Universität zu finden ist. Deshalb, sagt Horndasch, besteht in Deutschland eigentlich keine dringende Notwendigkeit, das Studium oder Weiterbildungen in den virtuellen Raum zu verlegen.
Trotzdem fordern Konzepte wie Arbeit 4.0 auch bei Bildungseinrichtungen mehr Fortschritt und Innovation. Was vor wenigen Jahren mit sogenannten Moocs (Massive Open Online Courses) begann, mit denen sich Interessenten im Internet weitgehend kostenfrei fortbilden konnten, wächst immer weiter. Das hat auch der Bund erkannt: 20 Projekte werden in Deutschland an unterschiedlichen Lernstandorten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Sie experimentieren mit E-Learning und blended learning. Das heißt: Elektronisches Lernen und vermischtes Lernen, also eine Kombination aus Internetkursen und Präsenzveranstaltungen. Das wird vor allem in der wissenschaftlichen Weiterbildung viel genutzt.
Vor zwei Jahren sei dieses ganze Konzept deutschlandweit noch in den Kinderschuhen gewesen, sagt Horndasch. „Jetzt geht es in die Pubertät." Wie genau das funktioniert, damit beschäftigt sich Horndasch zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern. Sie wirken am Hochschulforum Digitalisierung mit. Hier untersuchen und diskutieren sie die Einwirkungen, die die Digitalisierung auf die Hochschullehre hat. Allerdings haben sie wie auch das Bundesministerium mit einem Nachteil zu kämpfen: Genaue Zahlen über Online-Angebote der Universitäten gibt es bisher nicht. Aber die Lehre und die Weiterbildung im Netz gewinnen immer mehr an Bedeutung, das sei unverkennbar, sagt Horndasch.
Das Konzept ist einfach: Anstatt in einem Seminarraum zu sitzen, können Onlinekurse ohne Probleme im heimischen Wohnzimmer durchgeführt werden. Das funktioniert meist mit Videos: Wie bei vielen Moocs werden Kurse oder Vorlesungen gefilmt und im Netz verfügbar gemacht. Zusätzlich werden Aufgaben gestellt, die die Teilnehmer dann ebenfalls im Netz bewältigen müssen. Speziell für Arbeitnehmer oder Alleinerziehende ein entlastendes Konzept. Wohl auch deshalb erfreuen sich diese Angebote besonders auf dem Gebiet der beruflichen Weiterbildungen wie bei Fernstudiengängen großer Beliebtheit, sagt Horndasch. Einzelne Kurse können auch ohne Abschlüsse oder Zertifikate von Arbeitgebern anerkannt werden. Der Vorteil sei außerdem, dass diese Fortbildungskonzepte nicht auf ein Vollzeitstudium ausgelegt und deshalb auf das Internet übertragbar seien. Während typische Masterstudiengänge an Universitäten meist konsekutiv, also an ein Grundstudium anschließend sind, ist bei weiterbildenden Abschlüssen die Praxis ausschlaggebend. Hier wird Berufserfahrung vorausgesetzt, das Studium muss praxisorientiert sein und die Institution kann Studiengebühren verlangen. Genau diese Konzepte sind für Arbeitnehmer interessant.
Das Fernstudium als GrundlageIn den vergangenen zwei Jahren hat sich in diesem Bereich viel getan: 72 Prozent der Weiterbildungsangebote kombinieren Online- und Präsenzlehre, 22 Prozent bieten sogar reine Online-Studiengänge an, sagt Horndasch. 2015 sei es lediglich die Hälfte gewesen. Trotzdem stützen sich deutsche Institutionen auf ein bekanntes Konzept. „Die Basis ist die des Fernstudiums", sagt Horndasch. Denn das Fernstudium sei schon immer von verschiedenen Institutionen unterschiedlich gestaltet worden. Deshalb sei hier der Raum für Innovationen größer.
Die sind dringend notwendig: Seminare unverändert zu digitalisieren, sei eigentlich das Gegenteil von Innovation, sagt Horndasch. Die Aufmerksamkeitsspanne beim Anschauen von Videos sei kürzer als bei einer normalen Vorlesung. Zudem fallen im eigenen Wohnzimmer Faktoren wie der soziale Druck weg, die dazu führen, dass man in Seminaren aufmerksam zuhört. Deswegen müssen digitale Bildungskonzepte interaktiver, komplexer und kreativer gestaltet werden als in der jetzigen Lehre üblich, sagt Horndasch.
Allerdings gibt es hierfür keine Standardisierung. Deswegen sind die deutschen Online-Angebote eng an Hochschulen und Universitäten gebunden, um am Ende eine staatliche Anerkennung zu ermöglichen. So auch bei Oncampus, einer Tochter der Fachhochschule Lübeck. Die GmbH bietet seit 2011 in einem Hochschulverbund virtuelle Fachhochschule in Zusammenarbeit mit elf weiteren Bildungsinstitutionen Online-Studiengänge an. Die Anmeldung erfolgt wie an jeder Universität: Die Studierenden immatrikulieren sich und erhalten damit die Zugangsdaten für das sogenannte Lernraumsystem. Das ist über eine Internetadresse erreichbar. Dort werden die Lehrinhalte hochgeladen und stehen den Studierenden jederzeit zur Verfügung. Allerdings wurde auch der soziale Faktor bedacht: Über Chats und sogenannte Newsgroups können Studierende sich mit Kommilitonen austauschen oder Kontakt zu ihren Betreuern aufnehmen. So sind zum Beispiel auch Gruppenarbeiten im Netz möglich.
Trotz dieser sehr ausgeprägten Online-Lernplattform findet ein Fünftel des Studiums bei Präsenzveranstaltungen statt. Hier werden zum Beispiel Leistungsnachweise erbracht oder Laborübungen durchgeführt. Das Gleiche gilt für die Prüfungen. Allerdings sind diese Termine nicht an einen festen Vorlesungsplan gebunden - die Flexibilität bleibt also erhalten.
Projekte wie Oncampus seien noch einmalig in Deutschland, sagt Horndasch. Dennoch sei bei vielen Hochschulen und Universitäten ein großer Innovationswille zu erkennen, Lerninhalte für Online-Angebote besser aufzubereiten. Schon heute lassen sich auf der Internetseite des BMBF 191 Institutionen ermitteln, die E-Learning oder Blended Learning fördern. Die Präsenzlehre werde das sicherlich nicht verdrängen, meint Horndasch. Aber die Didaktik und die Lehrformate werden sich ändern, sagt er. So sei es sehr wahrscheinlich, dass in ein paar Jahren universitäre Lehre und Fortbildungen anders aussehen als heute.