Wissenschaft ist ein weites Feld, in der es viele Spezialisierungen
gibt. Wir stellen ungewöhnliche Experten und ihre Arbeitsgebiete vor.
Dieses Mal: Die Bionikerin Professor Doktor Antonia Kesel ist Leiterin
des Studiengangs Bionik an der Hochschule Bremen und Mitarbeiterin des Bionik Innovation Centrums.
Was macht eigentlich eine Bionikerin?
Wir entwickeln
technische Anwendungen nach den Vorbildern, die die biologische
Evolution im Laufe der letzten 4,3 Milliarden Jahre hervorgebracht hat.
Diese abstrahieren und vereinfachen wir.
Sie nehmen die Natur als Vorbild für technische Entwicklungen – können Sie das an einem Beispiel erklären?
Ein
Klassiker ist der selbstreinigende Lotuseffekt auf Oberflächen. Die
Oberflächenstruktur von Lotusblättern ist nicht glatt, sondern voller
Mikrostrukturen — wie fast alle biologischen Organismen. Die Natur
zeigt, dass auf solchen Flächen weniger Mikropartikel haften bleiben.
Wir denken hingegen oft, dass glatte Flächen besonders leicht zu
reinigen sind. Wilhelm Barthlott von der Universität Bonn und Christoph
Neinhuis von der Universität Dresden übertrugen diese Mikrostruktur in
der richtigen Größenskalierung auf technische Oberflächen, die dadurch
einen selbstreinigenden Effekt erhielten.
In welchen Bereichen kommt Bionik zum Einsatz?
Neben
Funktionsoberflächen gibt es die Bereiche biologische Werkstoffe, Aero-
und Hydrodynamik, Leichtbau, Energie — immer nach biologischem Vorbild
und mit dem Ziel der Optimierung des bestehenden Systems.
Wo nutzen wir Bionikprodukte im Alltag?
Beim Transport – zum
Beispiel beim Fliegen und Autofahren. Das Flugzeug ist eins der ersten
Bionikprodukte überhaupt, hier haben Menschen von Vögeln das Fliegen
gelernt. Heute geht es darum, das vorhandene Produkt durch
Strömungsoptimierung zu verbessern. Beim Auto machen Leichtbauteile, die
mit einer bionischen Methode optimiert wurden, die Karosserie leichter
und sparen Treibstoff.
Woran forschen Sie aktuell?
Wir haben eine giftfreie
Antifouling-Farbe entwickelt — einen Oberflächenschutz für
Unterwasserbereiche. Der Bewuchs eines Objektes durch Organismen wird
als Fouling bezeichnet. Alles, was dem Wasser ausgesetzt ist — Steine,
Metalle, Gummi, Schiffe, Hafenanlagen —, ist schnell von Mikroorganismen
wie Bakterien, Seepocken und Muscheln besiedelt. Schiffe haben dadurch
mehr Fahrtwiderstand und einen höheren Treibstoffverbrauch. Bisher
genutzte Anstriche arbeiten mit Toxinen, die sich jedoch mit der Zeit
aus der Farbe herauswaschen und im Meer sammeln. Das Problem: Sie
reichern sich im Meerwasser und in den Sedimenten an und greifen alle
Tiere und Pflanzen an. Unsere Farbe arbeitet hingegen ohne Gift.
Wie haben Sie Ihre Farbe entwickelt?
Wir haben uns nach
biologischen Organismen umgesehen, die ein giftfreies Antifouling
praktizieren — wie der Hai. Seine Haut ist von tausenden mikroskopisch
kleinen Zähnchen überzogen, die an ihrer Oberfläche eine Mikrostruktur
haben. Sie bewegen sich gegeneinander, sobald sich das Tier bewegt.
Diese makroskopische Elastizität der Haut und die Oberflächenstruktur
der Zähne verhindern, dass sich Fremdorganismen ansiedeln. Beides haben
wir auf unsere Farbe übertragen. Sie können jetzt sozusagen Hai-Haut in
Dosen kaufen, die auf rein physikalischer Basis Fouling verhindert.
Von welchen Tieren können wir uns noch etwas abschauen?
Zum
Beispiel von den Blattschneideameisen: Sie kommunizieren effizient und
betreiben Warenhaltung. Das können wir auf unsere Wertschöpfungsketten
übertragen — auf die Verarbeitung eines Rohstoffes in mehreren
Schritten, um ein Produkt zu erhalten, das wertvoller ist als die
Ausgangssubstanz. Die Ameise erntet Blätter, trägt sie in ihr Nest,
durchkaut sie — aber nicht, um sie zu fressen, sondern um einen Pilz
damit zu füttern. Dieser produziert dann in Kombination mit Bakterien
das eigentliche Nahrungsmittel der Ameise.
Was macht die Ameise besser als wir?
Erstens: Jede Ameise
erhält nur die Informationen, die sie wirklich braucht und nur dann,
wann sie diese braucht. Bei uns kriegt jeder — ob er will oder nicht —
kontinuierlich alle Informationen. Zweitens: Sie legt Vorräte an. Unsere
Vorräte befinden sich stets auf der Straße. Bleibt ein LKW liegen,
stockt die gesamte Produktionskette. Hier lässt sich für Logistikketten
viel lernen.
Wie sieht der Berufsalltag eines Bionikers aus?
Wir finden
eine Problemlösung in Form eines biologischen Phänomens und suchen dann
das Problem bzw. die Anwendung dazu — wie bei der Antifouling-Farbe.
Damals habe ich einen toten Hai am Strand gefunden, der komplett sauber
war — ganz anders als der Abfall um ihn herum. Solche Dinge analysieren
wir, erstellen Prototypen und suchen Anwender — eine Firma oder Branche,
die sich dafür interessieren könnte. Die Prototypen erstellen wir oft
zuerst als Simulations-Modelle am Rechner, wo wir sie unter
pseudorealistischen Bedingungen testen und optimieren. Nach einigen
Simulations-Generationen entsteht dann ein Realmodell. Immer häufiger
tragen auch Wirtschaft und Industrie ein Problem an uns heran, für das
wir in der Biologie nach einer Lösung suchen.
In welchen wissenschaftlichen Bereichen muss sich ein Bioniker auskennen?
Vor
zehn Jahren haben wir hier den weltweit ersten Studiengang Bionik
etabliert. Studenten erhalten eine Grundausbildung in Biologie,
Informatik, Mathematik, Physik, Chemie; dann geht es in die
Ingenieurwissenschaften, in die Werkstoffwissenschaft, die
Simulationstechnik und den Maschinenbau. Bionik ist ein
interdisziplinäres Studium. Bioniker sind die Grenzgänger, die sowohl
wissen, wie Biologen "ticken" als auch Maschinenbauer, Elektrotechniker,
Werkstoffwissenschaftler.
Was ist das größte Rätsel Ihres Fachgebiets?
Selbstheilende
Strukturen. Jeder Organismus hat diese Fähigkeit. Wenn sich der Mensch
verletzt, heilen seine Wunden schnell, bis man nichts mehr von ihnen
sieht. Bei technischen Strukturen ist das anders; das kaputte Bauteil
muss ausgetauscht werden. Biologische Strukturen kommen klein zur Welt
und wachsen in ihre Anforderungsprofile hinein. Bei Bäumen sieht man das
sehr gut. Kann er in eine Richtung nicht mehr weiterwachsen, wächst er
in eine andere. Wir produzieren Bauteile hingegen in der Größe, in der
wir sie für eine Anwendung brauchen. Es wäre großartig, wenn wir die
biologische Anpassungsfähigkeit, alle verfügbaren Optionen nutzen zu
können, übertragen könnten.
Gibt es hier schon Ansätze?
Es gibt erst Schritte. An der
Universität Freiburg entwickelte die Arbeitsgruppe von Thomas Speck
einen selbstheilenden Membranwerkstoff, der kleinere Risse in
Schlauchbooten automatisch verschließen kann. Er sitzt als gelartige
Zwischenschicht zwischen Außen- und Innenhaut und bleibt solange
elastisch, flüssig, flexibel bis er mit Luftsauerstoff in Verbindung
kommt. Dann quillt er raus und erhärtet — wie unser Blut, das gerinnt.
Der Studiengang Bionik ist eine recht junge Disziplin. Wie sind Sie Bionikerin geworden?
Ich
habe Biologie studiert, genauer gesagt Zoologie. Dann habe ich mich auf
Bewegungsphysiologie und Biomechanik spezialisiert. Mich interessierte,
warum eine biologische Struktur, zum Beispiel ein Elefantenbein, so
aussieht, wie es aussieht und wie es aus physikalischer Sicht
funktioniert. Denn wenn ich das weiß, kann ich mir überlegen, ob ich
dieses Wissen für technische Entwicklungen einsetzen kann.
Das Gespräch führte Lisa Alix Brandau
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