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Grüne Tücher für mehr Selbstbestimmung der Frauen - Kommentar

Am 30. Dezember 2020 wache ich schon früh auf. Mit halb offenen Augen greife ich im Dunklen nach meinem Handy. Meine Timeline: GRÜN! "ES LEY" - es ist Gesetz. Ich klicke mich durch die Unmengen von Posts, sehe tausende Frauen tanzen, sich umarmen, schreien und lachen. Alte und junge Frauen haben gemeinsam nicht lockergelassen: Schwangerschaftsabbrüche sind in Argentinien - nach jahrelangem feministischem Kampf - endlich legal. Bis zur 14. Schwangerschaftswoche können Frauen sich nun selbstbestimmt für eine Abtreibung entscheiden.

Ein Meer aus grünen Tüchern bei einem Protest für die weibliche Selbstbestimmung. Foto: Linda Peikert

Ich war insgesamt vier Mal für jeweils mehrere Monate in Argentinien. Aber zwischen dem vorletzten Besuch 2016 und dem letzten 2019 hatte sich etwas verändert. Schon von Deutschland aus verfolgte ich den immer stärker werdender Aktivismus der Argentinierinnen. Als ich dann im Januar 2019 mit dem Bus vom Flughafen Ezeiza die lange Stadtautobahn entlang bis ins Zentrum von Buenos Aires fuhr, fielen sie mir überall auf: Grüne, dreieckige Tücher. Mädchen hatten sie an ihre Schultasche geknotet, Frauen an ihr Handgelenk oder an die Handtasche, manche trugen das politische Erkennungssymbol wie ein Modeaccessoire im Haar.

Tage später war ich auf dem Platz vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires. Ein Meer von Frauen hielt grüne Tücher in die Höhe. Auf denen stand in weißer Schrift: "Educación sexual para decidir. Anticonceptivos para no abortar. Aborto legal para no morir." Auf Deutsch bedeutet das: "Sexuelle Aufklärung, um entscheiden zu können. Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben. Legale Schwangerschaftsabbrüche, um nicht zu sterben." Die Tücher sind das Erkennungszeichen der Kampagne für legale, sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien. Seit 2003 gibt es die Kampagne.

Die Stimmung war mit keiner Demo oder Kundgebung, die ich davor besucht hatte, vergleichbar. Alles war grün. Frauen mit grünem Glitzer im Gesicht, kleinem Kind auf dem Arm oder Gehstock in der Hand: Alle lachten, tanzten und sangen: "Das Patriarchat wird fallen, fallen, fallen." 2018 wurde ein Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bereits vom Senat diskutiert und schließlich abgelehnt. Doch daraufhin bekamen die Aktivist*innen enormen Zuwachs. Endlich wurde das Problem offen angesprochen und ging durch alle Medien.

Die Zahl der bisher meist illegalen Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien wird vom dortigen Gesundheitsministerium auf circa 350.000 pro Jahr geschätzt. In Deutschland sind es bei knapp der doppelten Einwohner*innenzahl etwa 100.000 pro Jahr. Sexualkundeunterricht gibt es an den meisten argentinischen Schulen nicht. Oft werden sehr junge Frauen schwanger, die Teenagerbeziehungen halten meist nicht lange. Die jungen Mütter sind dann oft auf sich selbst gestellt. Illegale Abtreibungen wurden bisher oft unter prekären Umständen durchgeführt, vor allem wenn die Frauen nicht viel Geld bezahlen konnten. Rund 50.000 Frauen wurden deshalb jedes Jahr nach Schwangerschaftsabbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert. Immer wieder sterben Frauen in Folge der Eingriffe.

Ein Schwangerschaftsabbruch war in Argentinien bisher nur in absoluten Ausnahmefällen legal möglich, also nach einer Vergewaltigung oder wenn die Schwangerschaft lebensbedrohlich für die Frau wäre. So konnte nur ein Bruchteil der Frauen legal abtreiben. Und selbst diese Ausnahmen wurden nicht immer berücksichtigt: 2019 gab es zum Beispiel den Fall eines 11-jährigen Mädchens, das wiederholt vom Partner seiner Großmutter vergewaltigt wurde. Die Entscheidung über den Abbruch der Schwangerschaft wurde von offizieller Seite so lange hinausgezögert, dass die Ärzt*innen letztendlich den Fötus in der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt brachten. Für das Mädchen war die Schwangerschaft die reinste Folter, sie sagte immer wieder, sie wolle, dass man "das" wegmache. Aber nein, ein Kaiserschnitt war der Weg, der nicht enden wollenden Tortur: Der 600 Gramm schwere Fötus starb kurze Zeit später. Diese Qual sollte in der Wahrnehmung der Abtreibungsgegner*innen Gottes Wille sein. Im öffentlichen Diskurs um Schwangerschaftsabbrüche meldet sich auf der Kontraseite nämlich besonders eine Expertengruppe zu Wort: Alte Männer. Die sind sich dann einig: Muttersein ist Erfüllung, auch für Teenager-Girls. Wickeln statt ersten Partys. Babygeschrei statt Schulabschluss. Kindererziehung statt Berufsausbildung. Die Teenager-Väter sehen das Kind vielleicht jedes zweite Wochenende, vielleicht auch gar nicht. Die Jungs haben Zeit für Schulabschluss, Berufsausbildung, Karriere. So reproduzieren sich patriarchale Strukturen ganz nebenbei. Und Frauen, die Sex vor der Ehe haben, sind in den Augen der Konservativen ja eh alles Schlampen. Da schenken sich Religiös-Konservative wohl weltweit nicht viel.

Doch die Argentinierinnen haben sich im Heimatland des Papsts zusammengetan und bilden somit eine unglaubliche Kraft: Der Kampf um legale Abtreibung hat eine riesige feministische Szene ins Leben gerufen. Die grünen Tücher sind überall zu sehen, es gibt unzählige Netzaktivistinnen in Social Media und eine feministische Musikszene. Von dem Nachdruck und der Kreativität des Aktivismus könnten und sollten wir uns hierzulande mehr inspirieren lassen.

"Hermana" - viele Aktivist*innen nennen sich gegenseitig liebevoll Schwester - "sag mal, in Deutschland seid ihr viel weiter, da sind Abtreibungen legal oder?" Freundinnen haben mich das immer wieder gefragt. Wenn man es genau nimmt: Nein. Unter gewissen Gegebenheiten werden Schwangerschaftsabbrüche nicht strafgesetzlich verfolgt. In der Praxis macht das vielleicht keinen riesigen Unterschied, trotzdem hat es so einen Beigeschmack. Warum muss man das so umständlich formulieren? Warum kann es nicht einfach legal sein? Und warum müssen sich Frauen in Deutschland vor einem Abbruch von Beratungsstellen die vermeintlich wunderbare Welt mit Kind erklären lassen? Ist doch weder der Körper, noch das Leben von irgendeiner Person, die bei einer Beratungsstelle im Büro sitzt! Grüne Tücher wären also auch in Deutschland angebracht. Errungenschaften feministischer Kämpfe müssen immer verteidigt werden, ansonsten besteht die Gefahr, dass Rechte und Konservative diese zurückgängig machen. Den Versuch, das Antiabtreibungsgesetz zu verstärken, konnte man 2020 in Polen beobachten. Auch dort sind die Frauen auf die Straße gegangen. Vor allem die Organisation Gesamtpolnischer Frauenstreik hat sich (bisher) erfolgreich gegen die vor allem von der regierenden PiS-Partei geforderten Gesetzesverschärfungen eingesetzt.

Auch in Chile werden Aktivistinnen und Politiker*innen nun wieder lauter. Seit 2017 darf dort aus "triftigem Grund" (Vergewaltigung, Leben der Frau oder des Fötus in Gefahr) abgetrieben werden. Mit dem argentinischen grünen Tuch in der Hand wurden die Forderungen nach einer Legalisierung immer lauter. Und siehe da: Am 13. Januar begann die Kommission für Frauen und Geleichstellung im chilenischen Abgeordnetenhaus mit der Bearbeitung eines Gesetzesentwurfs für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche. Der Straßenkampf um mehr Gleichberechtigung kann also wirklich etwas bewegen. Das Recht auf legale Abtreibung ist ein Meilenstein, denn ohne Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist die Gleichstellung der Frau nicht im Ansatz möglich. Nur gemeinsam, ob jung der alt, kann etwas bewegt werden. Hoffentlich werden in Zukunft auch andere patriarchale Missstands-Strukturen hier, in Argentinien und dem Rest der Welt mit kreativem Kampf, Tüchern, Farben, Geschrei und Gesang aufgedeckt und verändert. Erfolgsgeschichten wie die aus Argentinien geben Mut.

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