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artechock: »Im Idealfall würde eine Marokkanerin das Festival leiten« Interview mit Christoph Terhechte

Christoph Terhechte hat als einer der ersten die Berlinale verlassen. Jetzt leitet er das Festival in Marra­kesch. Und, wie geht es ihm da so?

Anfang Dezember ging das 17. Inter­na­tio­nale Film­fes­tival in Marra­kesch über die Bühne. Der Einladung des marok­ka­ni­schen Königs folgte ein großes Star­auf­gebot: Martin Scorsese, Robert De Niro und Monica Bellucci drängten sich ebenso auf dem roten Teppich wie Größen der arabi­schen und afri­ka­ni­schen Filmwelt. Als beste Darstel­lerin wurde die deutsche Burg-Schau­spie­lerin Aenne Schwarz geehrt, der Haupt­preis ging an Sudabeh Mortezais Joy über Frau­en­handel, eine öster­reich­siche Produk­tion einer deutsch-irani­schen Regis­seurin.

Die dies­jäh­rige Ausgabe stand vor allem für eine Neuaus­rich­tung als Besu­cher­fes­tival: Christoph Terhechte, ehema­liger Leiter der Sektion »Forum« der Berlinale, hatte zum ersten Mal die künst­le­ri­sche Leitung des Festivals inne. Ein Gespräch über die Frei­heiten der Kunst, den west­li­chen Einfluss und weibliche Film­schaf­fende.

Das Gespräch führte Lina Paulitsch.




Artechock: Herr Terhechte, Sie waren siebzehn Jahre lang Leiter des Forums der Berlinale. Nun sind Sie zu einem der größten Film­fes­ti­vals der arabi­schen Welt gewech­selt - der euro­päi­schen Öffent­lich­keit ist es jedoch wenig bekannt. Für was steht Marra­kesch?

Christoph Terhechte: Marra­kesch ist ein Ort, an dem sich eine an Afrika bzw. der arabi­schen Welt inter­es­sierte Filmszene trifft und ein Austausch zwischen inter­na­tio­nalen und regio­nalen Kultur­schaf­fenden statt­findet. Wie jedes gute Festival richtet es sich erst einmal an die lokale Bevöl­ke­rung. Es geht nicht nur um rote Teppiche - das Wich­tigste ist, dass wir Marokko, die marok­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung und die marok­ka­ni­sche Filmszene ernst­nehmen.


Wie sieht die Film- und Kino­kultur in Marokko aus?

Was Marokko auszeichnet, ist eine relativ liberale Kultur und eine Filmszene, die stabil funk­tio­niert und immerhin etwa 25 Filme pro Jahr hervor­bringt - das ist viel gemessen daran, wie wenige Leute hier noch im Kino Film sehen. Filme werden natürlich begeis­tert konsu­miert - aber daheim. Film im Kino fort­zu­schreiben, daran arbeiten wir auch als Festival.


Neben einer florie­renden Kunst­szene gibt es in Marokko gleich­zeitig restrik­tive Gesetze: Homo­se­xua­lität wird mit Gefängnis bestraft, außer­ehe­li­cher Sex ist per Gesetz verboten, Beschrän­kungen der Medi­en­frei­heit werden inter­na­tional kriti­siert. Unter­liegt das Film­fes­tival Marra­kesch der Einfluss­nahme des Monarchen?

Nein, wir sind nicht der Zensur unter­worfen, wir, d.h. das Auswahl­ko­mitee können tun, was wir wollen. Wir haben vier Filme im Programm, wo es um Homo­se­xua­lität geht, und drei Filme, die sich um Abtrei­bung drehen. Ich habe zwar keine Lust zu scho­ckieren - der soge­nannte "shock value" inter­es­siert mich nicht im Kino -, aber natürlich muss das Publikum auch hinnehmen zu sehen, wenn sich zwei Männer oder zwei Frauen auf der Leinwand küssen. Das gehört einfach dazu, das gehört zur Toleranz, und wenn der ein oder andere das nicht aushalten kann - na gut, dann tut's mir leid. Das Kino muss diese Freiheit haben und die muss man respek­tieren. Wie Robert De Niro in seiner Master­class hier in Marra­kesch sagte: "Kunst kennt keine Grenzen und keinen Rassismus, Kunst ist nicht selbst­süchtig."


Kann die Kunst- und Kultur­szene der arabi­schen Welt dann auch zu poli­ti­schen Verän­de­rungen beitragen?

Was ich auf jeden Fall fest­stelle, ist, dass sich was verschiebt in den arabi­schen Kine­ma­to­gra­phien, dass neue Arten von Kino - die es natürlich als Marginale immer gegeben hat - immer mehr nach oben drängen. Und dass es in verschie­denen Ländern der arabi­schen Welt geradezu eine neue Welle an Filme­ma­chern gibt. Im Programm haben wir zum Beispiel vier ägyp­ti­sche Filme einer jungen Genera­tion, die nicht mehr das tradi­tio­nelle ägyp­ti­sche Melodram vertritt, sondern eine völlig andere, modernere Art der Erzählung. Etwa Yomeddine, der auch in Cannes im Wett­be­werb gezeigt wurde. Solche Filme, die so einen frischen, manchmal rebel­li­schen Geist verströmen, gibt es regel­mäßig in letzter Zeit, in vielen arabi­schen Ländern.


Auffal­lend am Festival war die starke Präsenz Frank­reichs: Als Produk­ti­ons­land vieler arabi­scher Filme einer­seits, aber auch als Ausbil­dungsort kriti­scher Film­schaf­fender, vor allem marok­ka­ni­scher Herkunft. Prägt Frank­reich die hiesige Filmszene, finan­ziell und intel­lek­tuell?
   

Ja, Frank­reich ist natürlich als ehema­liger kolo­nialer Herrscher in vielen Ländern Afrikas recht privi­le­giert vertreten, da wird ein Stück Kolo­ni­al­ge­schichte perp­etu­iert, von dem auch die Film­in­dus­trie abhängig ist. Man muss gleich­zeitig auch sagen: Frank­reich ist das cine­philste Land der Welt, es ist immer noch am stärksten engagiert in der inter­na­tio­nalen Film­in­dus­trie, zumindest im Bereich des Autoren­kinos. Aber die inter­na­tio­nalen Co-Produk­tionen diver­si­f­zieren sich zunehmend, immer mehr Länder, wie etwa Katar, mischen mit.


Trotzdem bleibt der Westen ein sehr starker Refe­renz­punkt der arabi­schen Kunst- und Kultur­szene. Finden Sie das proble­ma­tisch?

Natürlich ist das proble­ma­tisch! Im Idealfall wäre ich gar nicht hier, sondern es gäbe eine Marok­ka­nerin, die das Festival leiten würde. Dazu wird es sicher auch irgend­wann kommen. Ich glaube, dass immer mehr und stärkere Kräfte in Marokko und anderen afri­ka­ni­schen Ländern sagen werden: "Wir machen jetzt unser Ding." Und dass der Westen dann auch die Verpflich­tung hat, sich selbst zurück­zu­stellen und zu fördern, was gefördert werden kann, ohne dabei zu denken, was er selbst davon hat. Ich hoffe, dass das Festival hier bei der Eman­zi­pa­tion der lokalen und regio­nalen Filmszene mithelfen kann.


Als Deutscher haben Sie vermut­lich euro­päisch geschulte Sehge­wohn­heiten, wählten beim Festival aber für ein marok­ka­ni­sches Publikum das Programm aus. Konnten Sie sich einem euro­zen­tri­schen Blick überhaupt verwehren?

Nein, natürlich ist das schwierig. Jeder, der Filme auswählen muss, hat diesen bestimmten Blick. Dadurch, dass ich in den zwanzig Jahren meines Berufes relativ viel unterwegs war, und mich weiterhin in andere Kulturen begebe, kann ich meinen euro­zen­tri­schen Blick aufwei­chen, aber völlig verschwinden wird er nie. Deswegen ist es wichtig, dass man die Auswahl eben nicht alleine macht, sondern sich vieler Stimmen bedient. Die anderen vier Komi­te­e­mit­glieder kommen aus Beirut, Berlin, Casablanca und Paris.


Anderes Thema: Die Film­aus­wahl reprä­sen­tierte viele Frauen, sowohl als Regis­seu­rinnen als auch als Prot­ago­nis­tinnen.

Immer noch nicht genug! Von vierzehn waren nur sechs Regis­seu­rinnen, also sieben wäre eigent­lich ideal. In der Sektion "Marok­ka­ni­sches Panorama" stammten von sieben Filmen drei von Frauen - das spricht für Marokko, wie ich finde. Es gibt hier großar­tige, sehr enga­gierte Regis­seu­rinnen und tolle Produ­zen­tinnen.


War es eine bewusste Entschei­dung, weibliche Film­schaf­fende zu fördern?

Nein. Wir haben nicht gesagt, wir lassen absicht­lich die tollen Filme von den Männern weg und program­mieren die schlechten von Frauen - so geht es wirklich nicht, das wäre positive Diskri­mi­nie­rung und das machen wir nicht. Diese Filme sind alle im Programm, weil sie großartig sind. Das Inter­es­sante ist: Obwohl es immer noch sehr ungerecht zugeht, fällt es einem leicht, einen hohen Anteil von Frau­en­filmen unter­zu­bringen - weil Frauen im Schnitt die besseren Filme machen. Das ist der Schluss, den ich in den letzten Jahren aus meiner Arbeit gezogen habe. In dem Moment, wo Frauen genauso Filme machen könnten wie Männer, wäre die Film­in­dus­trie wahr­schein­lich nicht gleich gestellt. Im Gegenteil: Ich glaube eher, dass sogar achtzig Prozent der Filme auf Festivals von Frauen kommen würden, vor allem hier in Marokko. Weil Frauen die span­nen­deren Filme machen.

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