In Langsdorf, einem 200-Einwohner-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, etwa 40 km von der Ostseeküste entfernt, trennt die Bewohner nur eine schmale Hauptstraße von der Dorfgaststätte Zur Kastanie. Doch seit Monaten rollen etwa täglich 10.000 Autos und Lastwagen durch die sonst kaum befahrene Straße. Das lässt einen Gaststättenbesuch schnell zu einem schwierigen Unterfangen werden.
"Der Lärm und der Gestank der Autos sind für uns am schlimmsten", sagt Bürgermeister Hartmut Kolschewski, der inmitten der Ursache des Problems steht: einem abgesackten Abschnitt der nahegelegenen Autobahn A20, der seit letztem Jahr gesperrt ist.
Wie gefährlich eine alternde Infrastruktur sein kann, zeigte sich zuletzt in dieser Woche - beim Einsturz einer Autobahnbrücke im italienischen Genua mit mindestens 39 Toten. Derartigen Risiken ist auch Deutschland ausgesetzt. Denn sein einst so beneidetes Netz aus Straßen, Brücken und Schienen verfällt seit Jahrzehnten. Schuld daran sind zu geringe Investitionen. In einer Rangliste des Weltwirtschaftsforums zur Straßenqualität belegt Europas größte Volkswirtschaft Platz 15 - hinter Oman und Portugal.
Die A20 zieht sich durch das Rapsfeld-gesäumte Flachland von Mecklenburg-Vorpommern - und damit auch durch den Wahlkreis von Angela Merkel. Die Kanzlerin eröffnete die lang geplante Ostseeautobahn bei einer Einweihungsfeier unweit der der Gaststätte Zur Kastanie im Dezember 2005, kurz nach ihrem Amtszeitbeginn als Regierungschefin. Nicht einmal zwölf Jahre später gaben die Fundamente über sumpfigem Untergrund nach. Das bis dato wohl deutlichste Zeichen der wachsenden Infrastrukturkrise reiht sich ein in prominente Beispiele wie die vorübergehend gesperrte A1-Rheinbrücke bei Leverkusen, den Berliner "Pannen-Flughafen" BER oder die Havarie an der Rastatter Tunnelbaustelle der Deutschen Bahn im vergangenen Spätsommer.
Neben dem Personenverkehr ist auch die deutsche Wirtschaft auf gut funktionierende Verkehrswege für Gütertransport angewiesen. Allein Staus verursachten im vergangenen Jahr einen gesamtwirtschaftlichen Schaden von mehr als 60 Milliarden Euro durch verlorene Arbeitszeit und verspätete Lieferungen, so der Verkehrsforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen.
Den Rückstand aufzuholen wird teuer. Schon die Investitionslücke für Kommunen betrug laut einer Studie der staatseigenen Investitionsbank KfW im letzten Jahr rund 159 Milliarden Euro. Davon machte die Verkehrsinfrastruktur ein Viertel aus.
Die Bundesregierung hat das Problem mittlerweile erkannt. "Wir machen nicht die Augen zu vor der Wirklichkeit", sagte Verkehrsministeriumssprecherin Svenja Friedrich Journalisten am Mittwoch in Berlin. Elf Prozent der Autobahnbrücken seien in einem unbefriedigenden Zustand.
Um Katastrophen wie in Genua zu vermeiden, müssten Inspektoren alle sechs Monate über den Zustand der Autobahnen berichten, so Friedrich. "Die Brückenmodernisierung ist ein großes Thema, auch im Bundeshaushalt haben wir das fest verankert. Dementsprechend geben wir Milliarden dafür aus, die Brücken zu modernisieren."
Auch im Bereich digitale Infrastruktur tätigt die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag Milliardeninvestitionen. Außerdem will sie die langwierigen Planungs- und Genehmigungsprozesse effizienter machen. Kritik gibt es weiterhin.
"Es ist immer noch viel zu wenig passiert, wenn es um Investitionen in Deutschlands Verkehrsinfrastruktur geht", sagt Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und verweist auf Deutschlands Investitionsstau von 11,3 Milliarden Euro, den das Land seit 2013 angesammelt hat. Der Rückstand ergibt sich aus den Nettoanlageinvestitionen, die in Deutschland seit 2003 meist negativ waren. Das bedeutet, dass die Staatsausgaben nicht ausgereicht haben, um den Verschleiß zu kompensieren.
Während Deutschlands alte Infrastruktur Abnützungserscheinungen zeigt, fällt die Bundesrepublik auch im Hinblick auf ihre digitale Zukunft zurück. Bei der Verbreitung von Mobiltelefonen liegt Deutschland laut Weltwirtschaftsforum auf Platz 76 hinter Algerien, Mali und Sri Lanka.
Funklöcher sind so ein hartnäckiges Problem, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer zum Ende des Jahres eine App angekündigt hat, mit der Bürger Orte melden können, an denen sie keinen Empfang haben. Auf einem Gipfel in diesem Sommer mit den Netzbetreibern Deutsche Telekom AG, Vodafone Group Plc und Telefonica SA bot Scheuer außerdem an, die Unternehmen beim Erwerb der neuen 5G-Lizenzen im kommenden Jahr um eine Milliarde Euro zu entlasten. Im Gegenzug sollen die Betreiber die Netzabdeckung von 98 auf 99 Prozent erhöhen.
"Daten sind inzwischen der wichtigste Rohstoff", sagt Bernhard Lorentz, Partner der Beratungsfirma EY in Berlin. "Will Deutschland hier in Zukunft eine Rolle spielen, muss deutlich mehr in digitale Bildung und Infrastruktur investiert werden." Auch Bürgermeister Kolschewski kennt Funklöcher. Wenn ihn jemand anruft, muss er meist in den Garten hasten, damit der Empfang nicht abreißt. Währenddessen rumpelt der Verkehr durch sein Dorf und Lärm dröhnt von der nahe gelegenen ein Kilometer langen Autobahnbaustelle.
"Die Arbeiten sind ganz schön laut, aber für uns Dorfbewohner klingt das wie Musik", sagt der 64 Jahre alte ehemalige Lehrer. Er steht nun neben dem Brückenkopf, wo Merkel die Autobahn seinerzeit eröffnete. Vor 2021 soll sie nicht wiedereröffnet werden.