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Kolumne

Eine sonderbare Beziehung: Ganzes und Wahres

Mit Halbwahrheiten möchte sich kaum jemand zufrieden geben. Obwohl damit vielleicht mehr gewonnen ist, als die meisten denken. Nicht zuletzt deshalb erscheint es in Diskussionen stets angebracht, dem Gesprächspartner zu bescheinigen, er habe immerhin teilweise recht, ganz gleich, wie weit seine Position von der ganzen Wahrheit entfernt sein möge. Wir müssen ihm ja nicht unbedingt das Kompliment machen, dass wir seinen Standpunkt sehr vermisst hätten, wäre er nicht zur Sprache gekommen. Aber mit diesem Gedanken zu spielen, kann aufs Ganze gesehen förderlich sein. Besser gesagt: es könnte sich als förderlich erweisen, wenn man das Ganze überhaupt wahrnehmen könnte.

Dies ist nämlich ganz unmöglich. Nicht einmal Teile, die allerkleinsten eingeschlossen, zeigen sich ganz. Wie der Vollmond streng genommen noch nicht einmal der halbe Mond ist, so bleibt ausgerechnet unter dem denkbar leistungsfähigsten Mikroskop noch das zum Greifen nahe Elementare im Unbestimmten. Wo auch immer man aufs Ganze geht, ist aufs Fehlgehen Verlass. Alles kann immer nur vorläufig alles sein, also ganz bestimmt nicht alles. Was immer wir unter dem Ganzen verstehen wollen, ist Frucht eines Irrens. Das Ganze, das wir meinen, ist jedesmal das Unwahre. Von daher ist sogar die Halbwahrheit ein vermessener Anspruch; denn zur Erkenntnis der Hälfte des Ganzen müsste die Erkenntnis des Ganzen vorliegen.

So bleibt unserem Erkennen nichts übrig als das Stückwerk. Das Stück als unbestimmt wesentlicher Teil fügt sich dem unbestimmbaren Wesen des Ganzen. Es ergibt sich eine Situation, in der ratsam erscheint, keine noch so indiskutable Option als unwesentlich abzutun. Gerade solche Ausgrenzungen sind freilich in dem Maße nicht zu vermeiden, wie wir Wert darauf legen, zu unseren Werkstücken Grundstücke zu zählen, die mit nicht Wenigem unvereinbar sind. So können innerhalb der zerstückelten Wahrheit alle möglichen Stücke gegeneinander in Stellung gebracht werden. – Gleichzeitig kann das Einsehen wachsen, dass ein Mosaik aus allen jeweils verfügbaren Stücken durch nichts an Wahrheitsgehalt und Integrität zu übertreffen ist.

HINWEISE

Hegel: "Das Wahre ist das Ganze."

Adorno: "Das Ganze ist das Unwahre."