Lena Frommeyer

Journalistin & Dozentin für Online-Journalismus

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Vorwort: Ausstellungskatalog "letzter heller"

Irren ist menschlich. Der automobile Mensch ist ein einziger Irrtum. Zumindest agiert er vorhersehbar irrational, wenn er sein Garagentor öffnet, in sein Fahrzeug steigt und in die Stadt fährt. Stoppt. Steht. Startet. Stoppt. Steht. Stotternd schiebt er sich über die grauen Teerflächen der großen Einfallstraßen, über Kreuzungen hinweg und Biegungen entlang. Als Verkehrsadern gedacht, erlebt die Stadt hier ihren täglichen Infarkt. Sie krampft und keucht. Der Verkehr stockt, weil sich zu viel leerer Raum in Blech gekleidet durch die Straßen bewegt. Das Einzige, was rauscht, ist das Blut derjenigen, die am Steuer sitzen. 

In seinem aktuellen Bilderzyklus „letzter heller“ setzt sich der Künstler Carsten Rabe mit der Verbindung von Mensch und Maschine im gemeinsamen Lebens- und Aktionsraum auseinander. Dafür fuhr er monatelang die sieben Magistralen der Stadt Hamburg ab, von der Stadtgrenze bis ins Zentrum, um ihre Randgebiete zu dokumentieren. Orte, denen der Charakter der überreizten Großstadt anhaftet, werden durch ungewohnte Perspektiven als Nischen wahrgenommen. Die Arbeiten leuchten vergessene Winkel aus und stellen die Frage, wo sinnvolle Mobilität aufhört und das Transportmittel nur noch Symbol von Status und Vereinzelung ist. Die Ästhetik der dokumentarischen Fotografien kommt einer ironischen Verehrung des Glanzes einer sich selbst überlebten Idee von Urbanität gleich.

Die Bilder im Katalog nehmen einen mit auf die Reise vom ländlichen Einfamilienhaus ins urbane Ballungszentrum. Carsten Rabe macht menschliches Handeln gegenüber der Umgebung sichtbar. Im Zentrum steht dabei die Ästhetik des Alltäglichen. Brüche im Bilderzyklus und daraus entstehende Absurditäten zeigen, dass die Idylle trügt. Durch Symbole und Metaphern fordert der Künstler die Betrachter dazu auf, brennstoffbasierte Fortbewegung kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig begreift er die Stadt weiterhin als Möglichkeitsraum.

Im urbanen Raum wird der Grundgedanke von Mobilität ad absurdum geführt. Das Auto, lange Zeit Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit, wird zur Falle, die Idee der autonomen Fortbewegung konterkariert durch das kollektive Stauerlebnis. Und trotzdem ignoriert der vernunftbegabte Mensch diesen deprimierenden Zustand. Er schreitet voran, von sich selbst nicht aufgehalten. Wider besseres Wissen huldigt er dem Kraftfahrzeug und wird so zum Opfer seines anachronistischen Verhaltens.

Natürlich lässt sich einer Autofahrt nach wie vor etwas Romantisches abgewinnen. Etwa, wenn sich der Mensch als Eremit begreift, die Einsamkeit sucht und die Zeit im Auto als meditativen Zustand erlebt. Im Stadtverkehr erfährt er das Gegenteil. Selbst die individuelle Abgrenzung misslingt, da er sich einem starren System aus Verkehrsregeln unterwerfen muss. Während er dem Labyrinth aus Pfeilen und Strichen folgt, an Ampeln hält und beim Abbiegen blinkt, agiert er trotzdem höchst asozial: Autofahren kostet nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft viel Geld, wie eine Studie der Universität Lund in Schweden zeigt. Fünfmal mehr als Fahrradfahren. Man spricht dabei von sozialen Kosten, zu denen die Erhaltung der Infrastruktur, Umweltschäden und Unfälle zählen. Das Auto, die Geißel der Menschheit.

So finden sich die Automobilisten in einer Dystopie wieder, die Fritz Langs technokratischer Riesenstadt ähnelt. In dem Film „Metropolis“ leben Arbeiter und Oberschicht getrennt voneinander in dramatisch unterschiedlichen Komfortzonen. Die Realität ist der cineastischen Vision jedoch einen Schritt voraus: Die Privilegierten werden in ihren klimatisierten Limousinen mit reichlich Beinfreiheit zu isolierten Verlierern, die entfremdet vom ursprünglichen Mobilitätsgedanken den Sinn der Maschine nur noch erahnen.

Der deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk hat einmal vom Auto als „rollendem Uterus“ gesprochen. Es sei eine um den einzelnen Fahrer herumgebaute platonische Höhle mit dem Vorzug, dass man in ihr nicht angeschmiedet sitze, sondern dass die fahrende Privathöhle Ausblicke auf eine vorbeigleitende Welt gewähre. Eine weitere Komponente beim Autofahren sei primitiv-aggressives Konkurrenzverhalten, das Aufprotzen und Überholen etwa. Was aber bleibt davon übrig, wenn man durchs Fenster auf ein Standbild schaut und auch kein Platz zum Überholen ist?

Es bleibt das Auto als Zuhause fürs Ego, als Äquivalent zum Goldzahn, als absurdes Statussymbol, losgelöst von seiner eigentlichen Funktion als Transportmittel. Wie ein eingeschweißter Comic. Das Auto wird zum goldenen Vlies, das an Wert verloren hat und dem man trotzdem hinterherjagt. Attributen wie Kapital und Macht kann es nicht mehr gerecht werden. Kraftvoll ist es höchstens noch unter der Haube. Das bemerkt vor allem die jüngere Generation: Skeptisch blickt das Kind (Seite 12), eingehüllt in goldfarbenem Stoff, vom Straßenrand aus auf die Szenerie und fragt sich, ob das die Umwelt seiner Zukunft ist: menschenleer und mit Verkehr verstopft.

Und dennoch wird der anthrazit- und silberfarbene Lack auf Hochglanz poliert, bis eine Fläche entsteht, die wie frisch auf die Straße gegossenes Erdöl wirkt. Im Lack kann man sich spiegeln, auch wenn die Wölbung des Kotflügels ein Zerrbild schafft. Je klarer der Look, desto besser funktioniert die überzogene Reichtumsidee und lässt den Narzissmus funkeln. Jeder Kratzer im Lack wird zum Kratzer im Image.

Die beliebtesten Lackfarben werden in der Farbenlehre nicht als solche bezeichnet: Schwarz, Grau und Weiß geben der Karawane ein nicht existentes Gesicht und lassen die rußende Masse subtil-bedrohlich wirken – surrend im Stau stehend und daran gehindert, mit gold- und silberfarben gestrichenen Pferdestärken in die Stadt hineinzugaloppieren (Seite 21). Der Mensch verliert in seiner Kapsel sitzend seine Identität.

Wenn die schimmernden Karossen über den stumpfen Asphalt rollen, sehen sie aus wie Fische. Fließt das Wasser mal wieder besonders langsam, kann man die schillernden Objekte zumindest in Ruhe betrachten. Ein schwacher Trost für jene, die sich ohne schützende Schuppen am Rande der Hauptverkehrsstraßen bewegen. Die meisten Menschen, denen man hier begegnet, sind zurückgelassene Gestalten: Rentner, Gebrechliche. Sie kreuzen die Verkehrsadern nur, um andere Wege zu nutzen. 

Die Bewohner der Magistralräume versuchen sich derweil, gegen den Lärm und die schlechte Luft abzuschotten. Der Stadtmensch wird hier zum ewigen Mauerblümchen, zu Unkraut im asphaltierten Garten, zur Graskante am Bordstein. In dieser Umgebung schaffen sich die Bewohner ihre Nischen und versuchen, die Umgebung bestmöglich zu ignorieren. Fenster werden mit Folie beklebt, Gardinen verschlossen und so auch der Blick auf alles Lebendige genommen.

Der Hamburger Künstler Peter Piller spricht in diesem Zusammenhang von „schlafenden Häusern“, die unweigerlich dazu anregen, darüber nachzudenken, was die Bewohner wohl hinter den Mauern und Fenstern verstecken. „Die Rollläden haben sie heruntergezogen, die Garage verschlossen. Urlaub, Scheidung, Mord? Wer weiß das schon so genau“, so der Künstler in einem Interview.

Gerätselt wird aber auch in die andere Richtung. Schließlich darf man sich als Zeuge des Schauspiels durchaus fragen, wo der aufklärungsresistente Menschen denn hinsteuert? Sloterdijk zufolge ist er auf der Fahrt ins Nirgendwo, auf der Fahrt in die Fahrt. Und als letzte progressive Funktion bleibe ihm nur noch eins: zu bremsen.

 

 

Lena Frommeyer, geboren 1985 in Osnabrück, sieht man meistens auf dem Fahrrad durch ihre Wohnstadt Hamburg flitzen. Die Journalistin sucht bevorzugt in Nischen nach ihren Themen und schreibt für das Gesellschafts- und Mobilitätsressort unterschiedlicher Medien wie z. B. „Spiegel Online“. Nach ihrem Studium der Politologie, Soziologie und Medienwissenschaften setzte sie sich in mehreren Ländern mit urbanen Räumen auseinander und wie wir uns in ihnen bewegen. Aktuell interessiert sie sich besonders dafür, wie wir Verkehrsräume neu aufteilen können, um die Stadt zu einem lebenswerteren Ort zu machen, und welche Art von Fahrzeugen wir dafür bräuchten. Als leitende Redakteurin und später als Mitglied der Chefredaktion des Magazins „Szene Hamburg“ berichtete Lena Frommeyer über die Kulturlandschaft sowie das politische Leben in der Hansestadt. Seit September 2016 ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Competence Center Communication (CCCOM) der HAW Hamburg tätig und bildet im Newsroom des Masterstudiengangs „Digitale Kommunikation“ den journalistischen Nachwuchs aus.


Carsten Rabe, 1975 in Hamburg geboren, aufgewachsen in Ajaoukuta (Nigeria) und Winsen/Luhe (Deutschland), lebt und arbeitet in Hamburg als freier Künstler, Fotograf und Kurator. 2001 beendete er sein Studium in Kommunikationsdesign in Hamburg. Seit 2002 zeigte er  seine Fotografien in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. 2006 war er Preis träger der Ausschreibung „10° Grad Kunst – Wege in die HafenCity“. 2015 war er mit  seinem Fotobuch „blossom“ nominiert für den Deutschen Fotobuchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Neben dem freien künstlerischen Werk arbeitete er seit 2002 als Kurator im Westwerk, Galerie Speckstraße und MOM Art Space in Hamburg. Des  Weiteren hat er seit 2010 diverse konzeptionelle Gruppenausstellungen in Aarhus, Berlin,  Kopenhagen, Hamburg, Magdeburg und Paris kuratiert.