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Einfach leben

Alissa Hoffmann, 26, weiß, dass es nicht immer einfach ist, den richtigen Job für sich zu finden. Sie arbeitete bereits als Krankenschwester, Infektionsschutz­beauftragte und Hygienekontrolleurin auf einem Schiff. Jetzt berät sie Schüler


Von Lena Bammert


Die Frage hätte das Potenzial zu vereinen, wäre sie nicht so aufgeladen, voll mit Druck und Erwartung. "Und was machst du so?" Irgendwann wird sie jeder und jedem gestellt, niemand der nach 1990 geboren wurde, kann sich so wirklich vor ihr verstecken.

Alissa Hoffmann, 26, kennt diese Frage. Sie beantwortet sie jedes Mal anders. Krankenschwester. Mentorin. Infektionsschutzbeauftragte auf einem Filmset. Kellnerin. Studium der Wirtschaftspsychologie. Hygienekontrolleurin im Schiffsoffiziersgewand. Alles davon stimmt. Es sind die vielen Stationen auf Alissas Weg zu einem beruflichen Leben mit Bedeutung. Einem beruflichen Leben, in dem es, wie Alissa sagt, darum geht, frei zu sein - oder sich zumindest frei zu fühlen, in dem man sich selbst, seine Vorstellungen vom Glück und seine beruflichen Interessen und Ziele immer wieder hinterfragt, und dann auch auf sich hört. "Du kannst eine Sache anfangen und musst sie nicht für immer machen", so nennt Alissa das.

Es ist ihre Reaktion auf die gesellschaftliche Erkenntnis, dass die Arbeitszeit und der Arbeitsort aufgrund von Digitalisierung und Globalisierung zunehmend entgrenzt werden. Work-Life-Blending heißt dieser Vorgang in der Populärwissenschaft. Es ist das, was viele Menschen während der Coronakrise im Home-Office zum ersten Mal wirklich richtig erfahren. "Arbeit ist halt mittlerweile Leben. Umso wichtiger wird der Sinn und die Selbstverwirklichung. Umso wichtiger ist es, das zu tun, was einem gut tut", sagt Alissa.

"Es gibt einfach viel, was mich interessiert, deswegen war ich ein bisschen verloren damals."

Alissa - Nasenpiercing, karierter Blazer, graues Hemd, roter Lippenstift, blonde Haare zu einem Dutt gebunden - sitzt in ihrem WG-Zimmer, Nähe Hauptbahnhof, schaut in die Frontkamera ihres Smartphones und verarbeitet während des Videogesprächs ein Stück Papier zu kleinen, nervösen Schnipseln. Zu sehen ist das nicht, dazu ist der Videoausschnitt zu klein. Zu merken auch nicht, dafür wirkt Alissa zu selbstsicher, dafür redet sie zu bewusst. Sie zeigt und erklärt es aber irgendwann und lacht. Weil sie weiß, dass es bestimmt nicht nur ihr so geht. Alissa hat den Weg der Papierzerstörung zur Nervenberuhigung nicht erfunden, genau so wenig wie die berufliche Sinnsuche. Aber sie redet offen über ihren Gedanken, ihre Zweifel und ihre Probleme auf diesem Weg, und plötzlich fühlt man sich mit seinen Ängsten weniger allein.

"Ich war nach dem Abitur damals total deprimiert. Ich dachte, alle haben etwas, das sie können, und ich kann eigentlich nichts so richtig. Heute weiß ich, dass es zwar in Ordnung ist, sich in seinem Selbstmitleid auch mal gehen zu lassen, aber es ist genauso wichtig, sich zu reflektieren. Es gibt einfach viel, was mich interessiert, deswegen war ich einfach ein bisschen verloren damals." Alissa fühlte sich in dieser Zeit von den wenigsten beruflichen Orientierungsangeboten angenommen. Viele Tests, wenig menschlicher Kontakt, noch weniger Zuspruch. Auch deshalb arbeitet sie heute als Mentorin bei der NaturTalent Stiftung, einer Münchner Organisation, die Schülerinnen und Schülern mit Hilfe von Seminaren und Testverfahren dabei helfen will, das passende Studium, die passende Ausbildung oder den passenden Beruf zu finden - abseits von klassischen Schulfächern und "aufbauend auf ihren Talenten", so ist es zumindest auf der Webseite zu lesen. Dort ist außerdem ein Zitat des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson aufgeführt: "Wessen wir am meisten im Leben bedürfen, ist jemand, der uns dazu bringt, das zu tun, wozu wir fähig sind."

Alissa ist eine der jüngsten Mentorinnen der Stiftung: "Ich will den jungen Menschen einen Platz geben, den sie sonst normalerweise nicht haben, weil ihnen oft nicht zugehört wird", sagt sie. Wenn sie von ihrer Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern erzählt, wird ihre Stimme drängender, so als würde sie gerne die ganze Welt von der Wichtigkeit überzeugen wollen, die eigenen Stärken zu sehen, und diesen Stärken zu folgen. Weil ankommen nicht immer alles sein muss. Der Mut zum Weitermachen aber schon.

Für diesen Mut entscheidet sich Alissa auch selbst immer wieder aufs Neue. Auch wenn es ihr manchmal schwer fällt: "Ich frage mich schon manchmal, wieso ich mich so schnell langweile oder wieso mir ein fester Job nicht reicht. Aber das Leben bietet so viele Chancen. Und du hast das Recht, diese auch wahrzunehmen und auszuprobieren."

An einem Tag kontrollierte Alissa Hunderte von Handpaaren. Auf Sauberkeit, Fingernagellänge und Verletzungen. Die Hände gehörten der Küchen-Crew der MS Albatros, einem Schwesterschiff des berühmten Traumschiffs. "Ich wollte schon immer mal auf einem Schiff arbeiten und es war wirklich eine superschöne Zeit", erzählt Alissa. Sie ist ausgebildete Krankenschwester und machte vor knapp zwei Jahren für die ZDF-Doku-Serie "Verrückt nach Meer" ein Hospital-Praktikum auf einem Schiff, unterstützte das Ärzteteam an Bord. Das Bewerbungsvideo dazu drehte sie nach der Stationsübergabe, auf dem Klo des Krankenhauses, in dem sie damals noch arbeitete.

Drei Jahre lang dauerte die Ausbildung zur Krankenschwester. Drei Jahre mit vielen bereichernden Momenten, mit Babys auf der Neugeborenenstation, mit Freundschaften zu lieben Menschen und Kollegen, zu älteren Patienten der Geriatrie, mit Einblicken in die Behandlung von Herz- und Lungenerkrankungen in der Thoraxchirurgie. Mit vielen Stationen und vielen Erfahrungen, die Alissa dazu bringen, auch heute noch zu sagen: "Der Beruf ist wirklich toll."

Junge Leute

Alissa sagt das mit so viel Überzeugung, dass es sich nicht nach ihrer persönlichen Meinung, sondern nach einem feststehenden Fakt anhört. Und trotzdem: Nach anderthalb Jahren als arbeitende Krankenschwester war für Alissa Schluss. Irgendwann war überall einfach nur noch Krankheit. Nicht mehr nur im Krankenhaus, sondern auch Zuhause, in ihrem privaten Leben. Abschalten funktionierte nicht mehr, vielleicht tat es das auch noch nie. "Ich war total unglücklich. Ich habe gemerkt, dass ich mich mit dem Thema Krankheit nicht mehr beschäftigen möchte."

Also beschäftigte sich Alissa mit sich selbst. Auf Facebook stieß sie auf eine Anzeige des Coaching-Formats "Aha Retreats" der Münchnerinnen Marion Hochwimmer und Steffi Losert. "Viele Menschen wollen ihren bisherigen Weg verlassen, wissen aber weder, wo sie stattdessen hinwollen, noch wie sie das überhaupt erreichen", erzählt Marion in dem Video zur Crowdfunding-Kampagne, die gestartet wurde, um sieben Menschen das dreimonatige Coaching zu ermöglichen. Auch Alissa hatte damals nicht genügend Geld für das Programm. Dabei sein wollte sie trotzdem. Also bewarb sie sich als Köchin für den Retreat, die wurde noch gesucht. Ihre Erfahrung: "drei Geschwister, bei uns wird immer ganz viel gekocht", erzählt sie und grinst.

Ein Leben mit Pausen im Lebenslauf und Abschnitten der Selbstfindung

Sie erinnert sich: "Ich dachte mir, Hauptsache ich kann mitfahren, der Rest wird irgendwann schon." Und es klappte. Alissa musste zwar oft um vier Uhr morgens aufstehen, den Tag vorbereiten und kochen, dazwischen durfte sie aber an den Seminaren teilnehmen. An Seminaren, in denen jeder ehrlich von seiner persönlichen Situation erzählte und in denen der Frage nachgegangen wurde, was man eigentlich mit seinem Leben machen will. Einmal saß sie mit Steffi im Auto, neben sich Tüten voll mit Einkäufen, die später ein Dutzend Menschen mit Essen versorgen sollten. Sie unterhielten sich über die NaturTalent-Stiftung, Steffi ist dort Mentorin und setzte sich nach dem Retreat bei der Geschäftsführung für Alissa ein. "Für Außenstehende ist es manchmal schwer, den roten Faden in meinem Leben zu sehen, aber ich sehe ihn ganz deutlich."

Und was macht Alissa so? Momentan arbeitet sie in einem Job, der vor einigen Monaten noch gar nicht existierte. Als Infektionsschutzbeauftragte auf einem Filmset steckt sie Schauspielern, Komparsen und Crew-Mitgliedern ein Stäbchen in den Mund - Corona-Schnelltest. Dazugekommen ist sie über einen Film-Dreh in dem Restaurant, in dem sie seit drei Jahren kellnert. Berufsbegleitend zu ihrem Mentoren-Job studiert Alissa momentan außerdem Wirtschaftspsychologie. Irgendwann möchte sie einen Hof kaufen und dort eine Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlichsten Alters aufbauen, die sich gegenseitig in ihrem Leben unterstützen. Alissas Geschichte hat also noch lange kein Ende, vielleicht braucht es aber auch gar keins.

"Und was machst du so?" Vielleicht geht es gar nicht darum, endlich eine gesellschaftskonforme und zielsichere Antwort auf diese Frage zu erreichen. Vielleicht sollte die Antwort darauf ganz einfach heißen: leben. Ein Leben mit Pausen im Lebenslauf und Abschnitten der Selbstfindung, in denen Ziele und Wünsche, und das eigene Glück neu definiert werden können. Im Endeffekt ist es genau das, was Alissa immer wieder macht. Und auch genau das, was sie in ihre Instagram-Biografie geschrieben hat: "Trust the timing of your life."

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