Einerseits ist diese Ausgabe ein Nachzügler. Schon 2014 hatte der Mathematiker Per Molander Die Anatomie der Ungleichheit in der schwedischen Originalversion veröffentlicht. Damit fiel es mitten in die von Thomas Piketty losgetretene Debatte um Gleichheit und Ungleichheit. Andererseits kommt so ein Buch und damit die jetzt vorliegende deutsche Übersetzung immer richtig; die Debatte ist nicht weniger dringend geworden. Fragt sich natürlich, ob seit Karl Marx viel Substanzielles dazugekommen ist. Molander versucht es trotzdem.
Dem Autor geht es im Grunde um zweierlei: zu beweisen, dass Ungleichheit natürlich ist - und zu zeigen, wie man sie dennoch beherrschen kann. Doch nicht nur ein Übergewicht des ersten Teils sorgt bei der Lektüre für Stirnrunzeln, auch und vor allem die wenig einleuchtende Argumentation.
Der Mathematiker Molander steigt mit Verhandlungsmodellen ein und sein Verdienst ist immerhin, dass diese verständlich sind. Davon ausgehend konstatiert er - gewiss richtig -, dass bei ungleichen Verhandlungssituationen (und zu diesen kommt es selbst bei gleichen Startbedingungen, und sei es durch äußere Einflüsse) zwangsläufig langfristig der Partner alles besitzt, der zu Beginn den Vorteil hatte. So weit, so wenig Erkenntnis. Gepaart mit Beispielen aus der Primatenforschung wird diese Situation jedoch naturalisiert. Aus einer sozialen Tatsache wird eine biologische. Dabei differenziert er auch nicht zwischen „Verhandlung" und „Tausch". Erstere mag als Kommuni-kationsform eine anthropologische Konstante sein, Letzterer ist, abhängig von seiner sozialen Form, stark unterschiedlich. So werden die Tauschsysteme der von Marcel Mauss untersuchten archaischen Gesellschaften gleichgesetzt mit der komplexen Warenwelt der modernen Industriegesellschaft. Kein Wort über Äquivalenztausch und Mehrwert, über Akkumulation oder Wertzirkulation, den Fetischcharakter der Ware oder die Rolle des Staates.
So wird aus der Ungleichheit ein unumstößliches Menschheitsproblem, mit dem man sich nur arrangieren kann. Nun folgt ein langer Ausflug in die Geschichte der Politischen Theorie, es geht um den Sozialkontrakt - ohne dass sonderlich klar würde, warum. Dann erklärt Molander lang und breit, wie Liberalismus, Konservatismus und Sozialdemokratie zur Ungleichheit stehen. Wenig überraschend: Liberale leugnen, dass Ungleichheit sich selbst verstärkt. Konservative legitimieren sie. Sozialdemokraten streben Gleichheit an. Letzteren kann Molander bedingt etwas abgewinnen.
Es wird dann doch noch kurz interessant: Der Autor weist auf den Zusammenhang zwischen hohem Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft und der Ungleichheit hin. Weniger Ungleichheit bedeutet mehr Vertrauen - und hohes Vertrauen fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, was sich wiederum auf die Ungleichheit auswirkt. Doch ehe man sich wirklich mit der Idee auseinandersetzt, ist die Passage auch wieder vorbei. Sowieso wirkt vieles angeschnitten, was der Form des Essays geschuldet sein mag - trotzdem bleibt oft Ratlosigkeit. Per Molander verfügt über viel Faktenwissen und kennt sich in der Geschichte der Sozialwissenschaften aus. Doch auf gerade 224 Seiten wirkt das bisweilen wie name dropping.
Beworben wird das Buch als „ganz neue Perspektive". Ein Versprechen, das es nicht hält. Obgleich Molander in seiner Funktion als Berater der schwedischen Regierung oder der Weltbank gewiss durch Kompetenz brilliert, bleibt sein Buch Stückwerk - das zudem kaum schlüssig erscheint.
Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können Per Molander Jörg Scherzer (Übers.), Westend 2017, 224 S., 24 €