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Steh auf!

Warum die SPD weiter für soziale Gerechtigkeit kämpfen muss Montage: der Freitag; Material: Getty Images, iStock

Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, war Facebook gerade ein Jahr alt. Twitter ist sogar jünger als ihre Kanzlerschaft. Zwölf Jahre können lang sein, zumal in einer sich so schnell drehenden Welt. Es gibt eine Generation junger Leute, deren politisches Bewusstsein komplett in der Ära Merkel und - sofern sie sich als links verstehen - durch die Kritik an ihr geformt wurde. Als Teil dieser Generation gehe ich seit der Volljährigkeit mit dem Wissen wählen, dass am Ende wieder Merkel herauskommt. Eigentlich immer. Frei nach einem Fußball-Bonmot: Politik ist, wenn 20 Parteien Wahlkampf machen und am Ende gewinnt Merkel. Facebook und Twitter sind groß geworden, wir Neunziger-Kinder werden langsam erwachsen - und Angela Merkel ist immer noch da.

Sollte sie im Herbst erneut gewählt werden und die Legislaturperiode durchstehen, wird ihre Amtszeit so lange gewährt haben wie die Helmut Kohls. Lange sah es so aus, als gelinge ihr dies. Dann hätte ich mein Kreuz einfach irgendwo im linken Spektrum gemacht und ansonsten wäre nicht viel passiert. Doch dann geschah, was kaum jemand erwartet hatte: Die SPD landete einen Coup. Mit Martin Schulz´ Kür stieg die SPD-Aktie in den Umfragen. Im Internet drehten die Jusos frei. Jungen Linke diskutiert plötzlich, welche Partei denn nun zu wählen sei.

Das scheint vorbei zu sein. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen musste die SPD schwere Niederlagen hinnehmen. Also doch wieder vier Jahre Merkel. Wollen wir das wirklich? Die Euphorie, mit der sich manche Schulz und der SPD um den Hals werfen, ist suspekt. Nicht nur wegen der Wahlniederlagen. Die Freude, sich endlich in ein „gutes" Kollektiv - im Kontrast zu den bösen Rechten - einordnen zu können, erscheint beinahe wie ein Traum. Politisch ist der Ansturm auf die SPD kaum zu erklären. Von den Positionen, die auf die 20-Prozent-Marke drückten, hat sie sich immer noch nicht entfernt. Europaweit haben die Sozialdemokraten diejenigen im Stich gelassen, die zu ihrer zuverlässigsten Wählerbasis hätten werden können. Der Satz „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" ist seit 1914 ein Dauerbrenner. Nicht ohne Grund. Hannelore Kraft hat in Nordrhein-Westfalen auch verloren, weil die Probleme des Landes in den letzten Jahren nur größer geworden sind. Schulz' pauschale Absage an die Linke und die fast gleichzeitige Ankündigung, eine Große Koalition einzugehen - er träumt davon, es geschehe unter seiner Führung -, ist wie ein Verrat an einer jungen, engagierten, progressiven Linken.

Nicht viel anders die Grünen. Sie haben sich mit ihrem Kurs der Anbiederung an die Union nicht nur verspielt, sondern auch viel an Vertrauen eingebüßt, gerade bei jungen, modernen Wählern. In der Flüchtlingspolitik, die der Grünen Trumpf hätte werden können, haben Rechtsausleger wie Winfried Kretschmann und Boris Palmer der Partei geschadet. Das hat nicht wenige junge Linke befremdet. Wenn ich heute auf eine WG-Party gehe, ist es selbstverständlich, dass jemand Freunde mitbringt, die gerade einen Deutschkurs machen. Merkels Flüchtlingspolitik ist aber längst nicht so progressiv, wie gern glauben gemacht wird. Jüngst zeigte der Autor Robin Alexander, dass die Nicht-Schließung der Grenzen 2015 eher ein Betriebsunfall als ein Akt der Humanität war. Das Asylrecht ist inzwischen sinnentleert. Menschen, die Merkels Floskel vom „Wir schaffen das" tagtäglich umsetzen, empfinden die Vereinnahmung als Hohn.

Und die Linkspartei? Sie ist ohnehin oft nicht mehr als eine Folklore-Veranstaltung. Ihr Sammelbewegungskonzept macht sie zwar stark, aber auch angreifbar - und für manche unwählbar. Von Sozialdemokraten über DDR-Nostalgiker bis zu Trotzkisten tummelt sich in dem Verband allerhand merkwürdiges Personal. Insbesondere antisemitische Ausfälle und die antiwestliche Haltung stoßen sauer auf. Ob Sahra Wagenknecht und das Gastrecht-Gefasel, der antiamerikanische Reflex in der Außenpolitik oder Abgeordnete auf der Gaza-Flottille: Die Linke ist durchaus gefährlich, weil populistisch, antiwestlich und antisemitisch.


Schulz bleibt die Chance


Dass diese drei Parteien dann auch noch gemeinsam regieren sollen, mag irrsinnig erscheinen, ja gar als eine Front gegen Flüchtlinge, Arbeitslose und Israel. Diese Furcht ist berechtigt, aber auch ein wenig übertrieben. Unter einem Kanzler Schulz würde die Bundesrepublik sicherlich nicht aus der NATO austreten. Und es ist auch eine Chance. Für die, die seit einiger Zeit in großer Zahl in die SPD eintreten, ist Hartz IV ein Kampf von gestern. Für junge Menschen war die SPD schon immer die Agenda-Partei, alles andere ist Geschichtsunterricht. Die Linkspartei ist längst nicht das Schreckgespenst, das die Union durch antikommunistische Töne herbeizaubern will. Und Schulz selbst steht für eine gewisse Ambivalenz: In der Wahrnehmung steht er weder für die Agenda-Politik noch für die tristen Gabriel-Jahre. Der Hinweis, dass Schulz seit 1999 Teil des Parteivorstands und des Präsidiums ist, geht unter.

Schulz ist die perfekte Projektionsfläche für die linksliberale Jugend, die sich nach einem Wechsel sehnt, ohne sonderlich radikal zu sein. Dass die SPD und Schulz maßgeblich an der politischen und sozialen Misere in diesem Land und in Europa beteiligt sind? Geschenkt! Das mag absurd anmuten und es geht auch nicht darum, Probleme unter den Tisch zu kehren. Ganz im Gegenteil, die kritische Distanz ist wichtig. Doch die anhaltende Kanzlerschaft Merkels ist zum Anachronismus geworden. Die Union setzt im Wahlkampf auf das Stabilitätsargument. Aber Merkels Stabilität ist nichts als Verkrustung. Experimente bringen Veränderung und wenn die Vorzeichen stimmen, auch gute. Dass da nicht alles nach jedermanns Vorstellung laufen wird, gehört zum Parlamentarismus. Das ewige Klammern an der Stabilität und somit auch an den Ursachen aktueller Probleme kann kein Ausweg aus der Krise sein. Und erst recht kein Konzept für Linke. Denn seien wir ehrlich: Wer will noch Merkel? Merkel muss weg; jedoch nicht so, wie es sich die autoritäre Meute vom Dresdner Neumarkt vorstellt - das heißt aufgehängt und ersetzt durch einen starken Führer -, sondern demokratisch abgewählt und in den wohlverdienten Ruhestand geschickt.

Müsste man nicht den Wind, der nun aus Paris weht, aufgreifen, und mit einer neuen, linksliberalen Regierung antreten, um Europa besser zu machen? Europa ist einer der zentralen Punkte für junge Progressive. Als die Deutsche Mark verschwand, wurde ich eingeschult. Als ich vergangenes Jahr an der deutsch-französischen Grenze Kontrollen sah, fühlte ich mich geradezu persönlich beleidigt. Grenzen sind 20. Jahrhundert.


Druck auf Biografien

In Zeiten von Erasmus, Euro und Interrail will diese Generation an Europa festhalten. Ich sehe es nicht ein, im Zug von Marseille nach Madrid kontrolliert zu werden. Schulz, als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, ist dafür geradezu prädestiniert. Die Sichtbarkeit, die das Europäische Parlament heute hat, verdankt es nicht zuletzt ihm. Auf dieses Thema muss die SPD setzen, will sie noch eine Chance haben.

In zentralen Punkten kann eine Mitte-Links-Regierung Veränderungen anstoßen, die sinnvoll und richtig wären. Der jüngste Vorstoß zur Ehe für alle beweist es: Die Mehrheit für gesellschaftliche Veränderung ist da, auch in der Gesellschaft. In jungen, linken Milieus stößt der anhaltende Widerstand gegen die Ehe für Homosexuelle ohnehin nur noch auf Kopfschütteln. So kann eine progressive Mehrheit eindeutige Zeichen gegen den europäischen Rechtsruck setzen.

Doch der Wechsel darf nicht bedeuten, dass eine Rückkehr in eine irgendwie geartete „gute alte Zeit" ansteht, wie es Jeremy Corbyn in Großbritannien oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich wollen. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, das der Deindustrialisierung erst recht nicht. Die Zukunft muss anders gestaltet werden. Einfach zu sagen, wir machen die Agenda rückgängig, reicht nicht. Es müssen neue, innovative Konzepte her. Wir müssen uns überlegen, wie die Gesellschaft neu gestaltet werden kann.

Der Druck, der heutzutage auf jungen Biografien lastet, muss dringend reduziert werden. Dazu gehört auch, aufzuhören, Universitäten einzig als Zulieferer für den Arbeitsmarkt zu betrachten. Was es heißt, nur auf seine Arbeitskraft reduziert zu werden, erfahren junge Menschen heute früh und brutal. Wenn eine Schulz-Regierung enttäuscht, droht Deutschland ein düsteres Szenario. Für den Moment scheint das Schreckgespenst AfD in die Defensive geraten zu sein. Doch immer noch versprechen sich zu viele Wähler davon etwas. Sie wollen den Wechsel spüren, sie wollen wissen, dass diese Demokratie funktioniert. Wenn ein Kanzler Schulz einfach so weitermacht wie bisher, dann wäre das ein Geschenk für die Rechtspopulisten und der Schaden für die Demokratie könnte vielleicht sogar irreversibel sein.

Eine linke Regierung bedeutet nicht Sozialismus, da kann sich die Union im Wahlkampf überschlagen, wie sie will. Außerdem gibt es ja auch noch die Option Ampel. Wenngleich die FDP lange (zu Recht) Ziel von Spott war, kann eine Ampel-Koalition mit den Themen soziale Gerechtigkeit, Umwelt und individuelle Freiheiten Gutes schaffen. Es wäre die sozialliberale Koalition des 21. Jahrhunderts.

Natürlich hat eine Reformregierung auch Grenzen. Die befreite Gesellschaft kommt nicht durchs Wählen. Der Kapitalismus schafft sich nicht dadurch ab, dass der Mindestlohn erhöht wird. Eine solche Regierung muss vor allem eines leisten: Die Demokratie vor einer weiteren Erosion schützen und die Zukunft so gestalten, dass der sich abzeichnende Rückfall in die Barbarei ausbleibt. Deutschland und der Rest Europas können es sich einfach nicht leisten, Millionen junger Menschen abgehängt zurückzulassen. Sei es in München oder den Quartiers Nord von Marseille: Leistungsdruck auf der einen und Perspektivlosigkeit auf der anderen Seite mögen zwar Kapitalismus sein, sie bedrohen jedoch den sozialen Zusammenhalt. Und obschon der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sein mag, so kann in der aktuellen Situation nur ein gestärkter Zusammenhalt das Ziel sein. Wer die befreite Gesellschaft will, muss weiter denken, ja. Doch dafür braucht er Luft zum Atmen. Und die gibt es nicht mit Angela Merkel.

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