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Wie der automatische Notruf aus dem Auto Leben rettet

Das E-Call-System erleichtert es den Rettungskräften, bei einem Unfall rascher einzugreifen. (Foto: Benjamin Nolte/dpa)

Es ist Freitag, 23. November, gegen 18 Uhr. Auf der Autobahn A 8 am Aichelberg bei Weilheim an der Teck fährt ein Mercedes in Richtung Stuttgart. Der 42-jährige Fahrer fällt in einen Sekundenschlaf. Das Auto kommt nach rechts von der Fahrbahn ab, braust einen Abhang hinunter, durchbricht das Gebüsch und überschlägt sich. Auf einem unbeleuchteten Feldweg unterhalb der Autobahn bleibt der Wagen liegen. Der Fahrer ist schwer verletzt. Die Temperaturen liegen Ende November knapp unter dem Gefrierpunkt.

Bei der Einsatzleitstelle in Göppingen gehen an diesem Abend keine Notrufe von Augenzeugen ein, niemand hat den Unfall beobachtet. Dennoch sind die Rettungskräfte etwa eine Viertelstunde später am Unfallort und können dem Verunglückten helfen. Das in dem Mercedes verbaute Notrufsystem, auch "E-Call" genannt, hat beim Aufprall automatisch einen Notruf abgesetzt und die GPS-Daten des Fahrzeugs an die Retter übermittelt. Womöglich hat das System dem Fahrer damit das Leben gerettet, denn das Auto wäre sonst "nur zufällig irgendwann von Spaziergängern oder Landwirten entdeckt worden", heißt es im Polizeipräsidium Ulm. Zu diesem Zeitpunkt wäre es für den 42-Jährigen vielleicht schon zu spät gewesen.

Bei Privatanbietern stellt sich die Datenschutz-Frage

Seit April 2018 muss in jedem neu genehmigten Fahrzeug ein E-Call-System verbaut sein, das schreibt die EU vor. Damit wollen die Politiker die Zahl der Todesopfer und Schwerverletzten im Straßenverkehr verringern. Der Notruf kann entweder manuell durch den Fahrer betätigt werden oder er löst von selbst aus, wenn die im Auto verbauten Sensoren einen Unfall erkennen - zum Beispiel, indem sie einen Aufprall registrieren. Der von der EU vorgeschriebene Notrufdienst stellt über das Mobilfunknetz sofort eine Sprachverbindung zur zuständigen Leitstelle her und übermittelt zugleich einen Datensatz mit allen wichtigen Informationen zum Unfallgeschehen. Dazu gehören der Standort des Autos, der Fahrzeugtyp und die Anzahl der Personen im Fahrzeug.

Bisher ist das E-Call-System nur in den wenigen Fahrzeugtypen verbaut, die seit April neu zugelassen wurden. Einige Autohersteller wie Daimler, BMW oder VW bauen aber schon seit vielen Jahren Notrufsysteme in ihre Fahrzeuge ein. Deren Prinzip funktioniert ähnlich: Der Notruf kann - manuell oder automatisch ausgelöst - Hilfe holen und die Rettungskräfte alarmieren. Zusätzlich bieten diese Systeme aber auch eine Pannenhilfe und andere Servicedienste an. Der Notruf geht dabei nicht direkt an die regionalen Leitstellen, sondern läuft zuerst in einem Callcenter des Autoherstellers auf, das dann bei Bedarf sofort die zuständigen Rettungskräfte informiert. Die meisten E-Calls, die die Leitstellen bisher entgegengenommen haben, waren Notrufe solcher Drittanbietersysteme.

"Technisch funktioniert der E-Call schon sehr gut", sagt Florentin von Kaufmann, der Chef der Integrierten Leitstelle der Berufsfeuerwehr München. Im vergangenen Jahr seien dort "vielleicht fünf oder sechs" solcher Notrufe eingegangen. Viel Erfahrung hat man also in München noch nicht, aber die Vorteile sind für den Branddirektor klar: Das GPS informiere die Rettungskräfte sofort und präzise über den Unfallort - gerade nachts, auf der Autobahn, sei das ein großer Gewinn. "Das System ist genial, da gibt es kein Wenn und Aber", sagt auch Gerhard Schmöller. Er arbeitet im Einsatzführungsdienst der Münchner Berufsfeuerwehr und ist Mitglied in einer Arbeitsgruppe des Verbands der Automobilindustrie (VDA).

Neben der unmittelbaren Alarmierung sei durch den Datensatz auch eine direkte Identifikation des Autos möglich - ohne dass man die Fahrzeugdaten "erst im System suchen muss", so wie bisher üblich. Den Umweg über das private Callcenter der Autobauer halten die Rettungskräfte für unkritisch. Natürlich entstehe dadurch ein "kleiner Zeitnachteil", räumt Schmöller ein, aber dafür bekäme man aus dem Callcenter sehr schnell alle relevanten Informationen übermittelt. Oft beherrschten die Mitarbeiter dort außerdem mehrere Fremdsprachen, was bei den Leitstellen mitunter nicht der Fall sei. Kritik zu den privaten Diensten der Autobauer kommt hingegen von Datenschützern. Denn während die EU für den gesetzlich vorgeschriebenen Notruf detaillierte Vorgaben zum Datenschutz macht, ist der Umgang mit den Daten, die die privaten Notrufdienste aufzeichnen, nicht geregelt. Die EU verlangt lediglich, dass Autobauer in ihrer Betriebsanleitung darauf hinweisen, dass es zwischen den beiden Systemen "Unterschiede bei der Datenverarbeitung" geben kann. Der Autobesitzer kann frei zwischen den Systemen wählen. So läuft bei BMW von Werk aus das private Drittanbietersystem, das auf Wunsch des Besitzers aber kostenlos deaktiviert werden muss. Aktiv ist dann nur noch das datenschutzrechtlich geschützte E-Call-System, das die EU vorschreibt.

Zumindest beim verpflichtenden E-Call der EU müssen Autofahrer nicht befürchten, ständig überwacht zu werden. Denn die EU schreibt vor, dass die aufgezeichneten Daten "automatisch und kontinuierlich" gelöscht werden müssen und "keine dauerhafte Verfolgung" stattfindet; lediglich "die letzten drei Positionen des Fahrzeugs" dürfen gespeichert werden, um bei einem Notfall den Standort des Wagens bestimmen zu können. Doch noch gibt es auch technische Probleme. Schwierigkeiten bereiten etwa die Schnittstellen zwischen der neuen Software und dem Einsatzleitsystem. Es gab eine Frist, bis zu der die Integration abgeschlossen sein sollte. Doch da die mehreren Hundert Leitstellen in Deutschland auf Ebene der großen Städte und Landkreise unterschiedlich organisiert sind, hat das mal gut und mal weniger gut geklappt.

Bis 2021 will die EU-Kommission einen Bericht über die bis dahin erzielten Ergebnisse des E-Calls vorlegen. Je nachdem, wie der ausfällt, könnte das System dann auch für Lkws, Motorräder und Busse verpflichtend werden.

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