Dieses polnische Weihnachtslied „Gdy sie Chrystus rodzi“ wird Jewgeni wohl nie vergessen. Schließlich hat das Lied über seine Zukunft entschieden. Der 19-Jährige stammt aus Krassyliw, einer Kleinstadt im Westen der Ukraine. Im Frühling 2014 entschließt er sich, nach Polen zu gehen, um dort zu studieren.
Er ist 15 und hat gerade die Hochschulreife erworben. Die letzte Hürde zwischen Jewgeni und seinem großen Ziel: Er muss einem polnischen Konsul beweisen, dass er sich mit polnischen Traditionen und dem katholischen Glauben auskennt.
Zunächst läuft alles glatt, aber wann feiert man in Polen den Nikolaustag? Der junge Ukrainer versucht abzulenken, erzählt von Weihnachten, erzählt von seinem Engagement im heimischen Chor. „Und da hat der Konsul mich aufgefordert,“ sagt er, „ein polnisches Weihnachtslied zu singen.“
Jewgeni konnte den Konsul mit „Gdy sie Chrystus rodzi“ überzeugen. Heute studiert er Internationale Beziehungen und Diplomatie in Warschau. Dass darüber ein Weihnachtslied entscheiden konnte, liegt an einem umstrittenen Dokument in Scheckkartenformat – der Karta Polaka.
Für Hunderttausende könnte sie zur schnellen Eintrittskarte in die gesamte Europäische Union werden. Denn worauf andere jahrelang warten müssen, bekommen Karteninhaber seit neustem im Schnelldurchlauf: Sie dürfen in Polen arbeiten oder studieren und können sofort einen Antrag auf Daueraufenthalt stellen. Und ein Jahr Daueraufenthalt kann schon genügen, um gute Chancen auf die polnische Staatsbürgerschaft zu haben. Mit dieser können Karteninhaber später in jedem EU-Mitgliedsland leben und arbeiten – auch in Deutschland.
Das polnische Außenministerium scheint sich allerdings kaum daran zu stören, dass die Kartenbesitzer weiter in den Westen ziehen könnten: Das Gesetz gebe „keine Berechtigung, die Motivation eines Bewerbers zu untersuchen“, heißt es dort. Auch sei der Erhalt in keinem Fall davon abhängig, wozu ein Bewerber die Karte später nutzen möchte.
In jedem Fall scheint Deutschland vor allem für Ukrainer attraktiv zu sein. Einer ukrainischen Studie zufolge ist Deutschland das aktuell beliebteste Ziel für die Auswanderungswilligen des Landes. Im vergangenen Jahr lebten bereits etwa 136.000 Ukrainer in Deutschland.
Aussichten auf die Karta hat, wer aus einem Nachfolgerstaat der Sowjetunion stammt, ein wenig Polnisch spricht und möglichst polnische Vorfahren hat. Wie viele Personen aufgrund ihrer polnischen Wurzeln antragsberechtigt sind, weiß niemand genau. „Die geschätzte Zahl bewegt sich zwischen mehreren Hunderttausend und einer Million“, sagt eine Sprecherin des Außenministeriums.
„Als ich gesehen habe, welche vielen Vorteile die Karta Polaka bietet, habe ich den Antrag gestellt“, erzählt Jewgeni, dessen Mutter polnische Wurzeln hat. In der Ukraine hätte Jewgeni für das Studium viel Geld bezahlen müssen. Außerdem, sagt er, sei das Niveau der Bildungseinrichtungen in seiner Heimat schlecht, Praktikumsplätze gebe es kaum.
Nicht zuletzt fühle er sich wegen des Kriegs in der Ukraine nicht mehr sicher. „Die Karta Polaka“, sagt Jewgeni, „ermöglicht einem, von all den Problemen wegzukommen, von der schlechten wirtschaftlichen Lage, den russischen Truppen im Donbas, den fehlenden Perspektiven.“ Seine Familie könnte er als Kartenbesitzer leicht nachholen.
Seit der Einführung der Karta Polaka im Jahr 2008 hat das polnische Außenministerium mehr als 200.000 Karten ausgegeben, die meisten an Weißrussen (95.000) und Ukrainer (87.000). Im Gesetzestext heißt es, die polnische Regierung fühle sich gegenüber den Auslandspolen moralisch verpflichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Alliierten die Grenzen der Sowjetunion auf Wunsch Stalins nach Westen verschoben, sodass Millionen Polen plötzlich auf sowjetischem Gebiet lebten.
Die Anwärter auf eine Karte müssen schriftlich bezeugen, dass sie sich der polnischen Nation verbunden fühlen. Wer das Land und seine Bürger „mit seinem Verhalten verunglimpft“, so das Gesetz, kann die Karte wieder verlieren. Doch auch wirtschaftliches Kalkül dürfte hinter der Karta Polaka stecken. Bis zu fünf Millionen Zuwanderer brauche das Land bis 2050, warnte zuletzt ein großer polnischer Arbeitgeberverband und stützte sich dabei auf Prognosen des nationalen Statistikamtes. Anders sei die aktuelle Wirtschaftsleistung nicht zu halten.
Das Problem aus polnischer Sicht: Viele junge Polen zieht es in Richtung Westen. Rund zwei Millionen Menschen sollen das Land seit dem EU-Beitritt verlassen haben. Und das, obwohl die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief ist.
„Das liegt in großem Maße an den höheren Löhnen und den besseren Arbeitsbedingungen im Westen“, sagt Robert Pater, Leiter des Wirtschaftsinstituts an der Hochschule für Informatik und Management in Rzeszów. Vor allem die ausgewanderten Facharbeiter würden auf dem polnischen Arbeitsmarkt eine große Lücke reißen. „Der Bedarf an Arbeitern ohne Hochschulausbildung ist zurzeit enorm groß“, sagt Pater. Ein Facharbeiter könne mittlerweile mehr verdienen als jemand mit einem Universitätsabschluss. Es fehle aber auch an Menschen ohne Qualifizierung für einfachste Tätigkeiten.
Und diese Lücke könnten die Ukrainer füllen, sagt Pater. Im vergangenen Jahr sind über 1,3 Million Ukrainer nach Polen gekommen, um hier zu arbeiten. Sie sind oft nur gering qualifiziert und in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe beschäftigt. Doch fast allen erlaubt die aktuelle Gesetzeslage nur saisonale Arbeit – begrenzt auf sechs Monate.
Danach ist erst einmal Schluss. Daran ändert auch die EU-weite Visafreiheit für Ukrainer nichts, die seit Mitte Juni gilt. Trotzdem liefern die Saisonarbeiter aus dem Nachbarland der Politik ein Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. So sagte Ministerpräsidentin Beata Szydlo vergangenes Jahr vor dem Europäischen Parlament, man habe rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Das seien Menschen, denen sonst niemand helfen wollte.
Die vermeintlichen Flüchtlinge müssen aber ihre Koffer packen, sobald ihr Arbeitsvertrag ausgelaufen ist. Pater hält die bisherige Politik der letzten Jahre für wenig durchdacht. Es fehle in Osteuropa generell an einer Strategie, um langfristig an fähige Arbeitskräfte zu kommen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler.
Nun aber hat die polnische Regierung die Karta Polaka neu durchdacht. Weil von den aktuell 200.000 Karteninhabern nur rund 5000 eine Daueraufenthaltsgenehmigung beantragt haben, lockt der Staat neue Interessenten seit Jahresbeginn zusätzlich mit monatlichen Unterhaltszahlungen, Unterstützung bei der Wohnungssuche und kostenlosen Bildungskursen – sofern sie sich in Polen niederlassen.
Dafür wurde das Gesetz zur Karta Polaka grundlegend reformiert. Das polnische Innenministerium geht davon aus, dass die neuen Anreize zusätzlich Zehntausende ins Land ziehen werden. Das Prinzip der Karta Polaka erinnert an die Aufnahme der deutschstämmigen Spätaussiedler, die nach dem Mauerfall nach Deutschland kamen. In den frühen Neunzigern strömten pro Jahr Hunderttausende aus Osteuropa und den ehemaligen Sowjetstaaten in die Bundesrepublik. Als Spätaussiedler bekamen sie und ihre Angehörigen die deutsche Staatsbürgerschaft.
Dass nun in kürzester Zeit ähnlich viele Menschen nach Polen kommen, gilt aber als unwahrscheinlich. Zwar ist der Andrang groß, doch die Verwaltungsprozedur dauert. Manche Konsulate können den Ansturm auf die Karte kaum noch bewältigen. Das Konsulat in Minsk schaltete seine Leitungen zuletzt nur an wenigen Tagen im Monat für jeweils zwei Stunden frei.
Und wer durchkam, wartete trotzdem noch Monate auf seinen ersten Termin. Seit der Reform können Anträge allerdings auch im Inland gestellt werden – und zwar bei den Verwaltungschefs der Woiwodschaften, den polnischen Verwaltungseinheiten. Das soll nicht nur die Konsulate entlasten, die Antragsteller sollen sich auch nicht mehr vor einer möglichen Überwachung im Heimatland fürchten müssen.
Denn in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stößt die Karte auf Kritik – insbesondere wegen des Bekenntnisses zur polnischen Nation, zu dem sich Karteninhaber verpflichten müssen. Gleich mehrfach übernahmen die Konservativen in Litauen vergeblich den Versuch, das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Karta Polaka entscheiden zu lassen.
Viel mehr könne die weißrussische Regierung nicht gegen die Karta Polaka tun, sagt Igar Gubarevich, Politikwissenschaftler am Ostrogorski Centre in Minsk. Sie habe international keine Rechtsmittel gegen Polen. Bislang seien nur wenige Weißrussen bereit gewesen, nach Polen auszuwandern.
Aber: „Jede Auswanderungswelle würde unserer Wirtschaft massiv schaden“, sagt Gubarevich. Rund um die Karta Polaka sei mittlerweile ein ganzer Geschäftszweig entstanden. Dienstleister würden dabei helfen, nach polnischen Wurzeln zu forschen. „Auch immer mehr Sprachkurse werden angeboten“, sagt Gubarevich. Sogar Simulationen des Gesprächs mit dem Konsul würden abgehalten, um die Bewerber vorzubereiten.
Für den 25-jährigen Alexander aus Minsk ist diese Diskussion nur noch von theoretischem Interesse. Er besitzt die Karta Polaka schon seit vier Jahren; im vergangenen Jahr kam er nach Warschau, um dort Balkanistik zu studieren.
Auch er erinnert sich noch gut an sein Gespräch mit dem Konsul. Von ihm wollte man wissen, wo Karol Wojtyla geboren wurde (Wadowice) und welche Stadt die Hauptstadt des polnischen Lebkuchens ist (Toruń). Alexander hatte sich mit Hilfe eines weißrussischen Online-Forums vorbereitet. Die Frage nach dem Geburtsort des polnischen Papstes erwischte ihn allerdings kalt. „Die“, sagt er, „stand nirgends im Netz.“
Nach seinem Balkanistik-Studium könnte sich Alexander vorstellen, nach Kroatien zu ziehen. Beruflich möchte er die Zusammenarbeit zwischen dem Balkan und Osteuropa verbessern. Wohin es geht, bestimmt er aber nicht allein. Seine Frau, ebenfalls Kartenbesitzerin, träume von einem Job bei Google. „Das hieße dann Irland“, sagt Alexander. Entschieden haben sich die beiden aber noch nicht.
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