Aus: Ausgabe 10/2016
Unter dem Bett lagert der größte Schatz von Marianne Grimmenstein. 40.000 Briefe, fein säuberlich sortiert, gestapelt und in Plastikfolie verpackt. Jeden Tag werden es mehr, wenn die Postbotin an der Tür klingelt. Grimmenstein eilt dann aufgeregt die Treppe hinunter. "Heute habe ich leider nicht so viel für Sie", sagt die Briefträgerin an diesem Mittwochvormittag, während sie der 69-Jährigen einen Packen mit vielleicht 100 Kuverts überreicht.
Seit einem Jahr bereitet die Musiklehrerin aus Lüdenscheid eine der größten Verfassungsbeschwerden der deutschen Geschichte vor. Grimmenstein will ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada zu Fall bringen und hat auf der Petitionsplattform Change.org dazu aufgerufen, mit ihr zusammen vor das Verfassungsgericht in Karlsruhe zu ziehen. "Bürgerklage gegen Ceta", hat sie ihr Anliegen genannt und um Vollmachtserklärungen per Post gebeten. 40.000 Bürger hat sie schon auf ihrer Seite. Jeder von ihnen will Mitkläger gegen das Abkommen, das Ceta heißt, sein. Grimmenstein ist zum Kopf einer Bewegung geworden. Wie hat sie das geschafft? Und was treibt sie an?
"Wir müssen uns gegen diese Wirtschaftsdiktatur, in der wir uns hier befinden und die Menschen und Natur zerstört, wehren", sagt Grimmenstein aufgeregt. "Ich meine, die Proteste gegen die Freihandelsabkommen zeigen doch, dass die Menschen verstanden haben, dass hier etwas nicht stimmt." Sie knallt die Hand auf den Tisch. Marianne Grimmenstein ist wohl das, was man heutzutage eine "Wutbürgerin" nennt. Eine, die unzufrieden ist, die Sätze sagt wie "Die Politiker haben versagt" und sich eine bessere, gerechtere Welt wünscht. "Partizipation", "Mitspracherecht", die Worte bleiben in der Luft hängen. Die Zentrale des Protests ist ihre Dreizimmerwohnung im beschaulichen Lüdenscheid, einer Stadt im Speckgürtel von Dortmund. Grimmensteins Kampf, er spielt sich ausschließlich online ab. Während andere in ihrem Alter entspannt Golfen gehen oder sich eine Finca auf Mallorca kaufen, hat Grimmenstein eine Art Ein-Frau-NGO geschaffen. Sachlich formuliert, hört sich Ceta harmlos an, unspektakulär: Das "Comprehensive Economic and Trade Agreement", kurz Ceta, soll den Verkehr von Waren und Dienstleistungen zwischen der EU und Kanada fördern und die Handels- und Zollbarrieren abbauen. Grimmenstein weiß um die Unattraktivität des Themas.
"Ceta ist das TTIP für Kanada", heißt es deswegen gleich im ersten Satz der Petition. Das klingt dann schon weitaus bedrohlicher. Es ist vor allem einprägsam. Denn TTIP ist mittlerweile zum Daueraufreger geworden, zu einem einzigen Reizwort. Das Freihandelsabkommen wird in Talkshows, Parlamenten und Medien diskutiert. TTIP ruft Assoziationen hervor: Chlorhühnchen, genmanipulierter Mais, riesige Protestdemos in Berlin. Die Schlussfolgerung: Wenn Ceta also wie TTIP ist und TTIP schlecht ist, kann Ceta auch nichts Gutes bringen.
"Also beides ist absolut schädlich und mit dem Grundgesetz und Völkerrecht nicht vereinbar", sagt Grimmenstein und greift nach ihrem Laptop. "Hier, sehen Sie doch mal!" Grimmenstein öffnet ein ZEIT-Interview mit dem US-amerikanischen Völkerrechter Alfred de Zayas. Einige Stellen im PDF hat sie gelb hinterlegt. "Da steht es, die Freihandelsabkommen sind politische Verträge, die unser demokratisches System abschaffen sollen." Grimmenstein öffnet Fachartikel, holt Bücher aus dem Schrank ihres Arbeitszimmers und listet die Risiken auf, die nach Meinung der Kritiker von Ceta ausgehen.
Während des Gesprächs füllt sich der große Fliesentisch im Arbeitszimmer mit Büchern und Papieren. Grimmensteins Wohnung ist urig, irgendwie gemütlich: ein hellbraunes Cordsofa, ein alter Holzschrank, aus dem Bücher quellen, ein paar Familienbilder hängen an der Wand. Zwischen dem Gewusel steht ein schwarzes Schnurtelefon. Nur der WLAN-Router glänzt nigelnagelneu. Alle Argumente, ihr ganzes Beweismaterial, hat Grimmenstein nun ausgebreitet vor sich liegen. »Wir müssen das wirklich stoppen«, sagt sie ernst und hebt dabei den Zeigefinger. Dieses Mal soll, ja muss es klappen. Sie will nicht noch einmal scheitern.
Vor anderthalb Jahren, im August 2014, beginnt ihr Kampf gegen das Freihandelsabkommen. Sie reicht eine zehn Seiten lange, selbst formulierte Verfassungsbeschwerde ein, nachdem sie in der Zeitung zum ersten Mal von Ceta gelesen hat. Tagelang recherchiert die Musiklehrerin im Netz, liest Bücher, macht sich schlau. »Ich habe zwar nicht Rechtswissenschaften studiert, aber ich komme aus einer sehr juristischen Familie.«
Grimmenstein, in Budapest geboren und dort aufgewachsen, hat zwei Anwälte in der Familie, Vater und Großvater. Sich in andere Themengebiete einzulesen ist so etwas wie ihr Hobby. Theologie, Ökologie und später auch Ökonomie studiert sie nach eigenen Angaben in Eigenregie. Als die zwei Töchter aus dem Haus sind, fängt sie an, sich bei verschiedenen Bürgerinitiativen zu engagieren. Sie setzt sich für bundesweite Volksentscheide ein und kämpft, mit Erfolg, für den Erhalt ihrer Volkshochschule in der Stadtmitte, bei der sie beschäftigt ist.
Marianne Grimmenstein hat plötzlich Zeit. Zeit und noch sehr viel Energie. Sie wird von Jahr zu Jahr mehr zur Vollzeit-Aktivistin. Und sie ist damit nicht die Einzige. Viele ihrer Generation haben in den vergangenen Jahren den politischen Revoluzzer in sich entdeckt. Die bürgerliche Mitte, zu der auch Grimmenstein zählt, begehrt zum ersten Mal bei Stuttgart 21 auf. Viele aus dem sogenannten Bürgertum gehen zu den Demonstrationen und halten Transparente hoch. Darunter Hunderte Grauhaarige, die mitmarschieren, um ihre Unzufriedenheit kundzutun.
Als Grimmensteins selbst formulierte Klage Ende 2014 vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wird mit der Begründung, dass die Verletzung ihrer Grundrechte nicht genügend untermauert wurde, wird sie noch entschlossener. »Ich wusste, dass ich nicht aufgeben werde.« Grimmenstein meint es ernst. Sie will die Richter überzeugen: Durch Ceta wird das Land dauerhaft Schaden nehmen.
Einige Wochen nach dem Einreichen der Verfassungsklage wird Grimmenstein von den Mitarbeitern der Petitionsplattform Change.org kontaktiert. Die Berliner Profis wollen die ältere Dame unterstützen – und das Wutpotenzial auf ihrer Seite bündeln. Sie stellen ihr einen Kampagnenleiter zur Seite, kümmern sich um Auftritt und PR. Grimmensteins Protest, er wird zu einer professionellen Angelegenheit. Zusammen suchen sie einen Anwalt, der sich der Klage annimmt. Das Geld, knappe 14.000 Euro, organisiert Grimmenstein – na klar – neumodisch per Crowdfunding im Netz. Das Mitmachen soll für alle Kläger kostenlos sein.
Nach ein paar Wochen haben sie den passenden Juristen: den Bielefelder Rechtsprofessor Andreas Fisahn, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Er hat bereits die Partei Die Linke bei ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den Fiskalpakt und ESM vertreten. »Wir sind beide ziemliche Idealisten, da haben wir uns gefunden«, sagt Grimmenstein.
Von Monat zu Monat trudeln mehr und mehr Vollmachtserklärungen bei ihr ein. Ihr 78-jähriger Mann, zwei Ehrenamtliche und eine Freundin helfen beim Sortieren und Abtippen der Briefe. »Das hier ist ein richtiger Vollzeitjob«, sagt sie. Die Bürgerklage ist zum Lebensinhalt geworden. Doch warum tut sie das?
Wenn man Grimmenstein nach ihren eigentlichen Motiven fragt, wird sie nachdenklich. Sie lehnt sich im Sofa zurück. Es gehe ihr nicht nur um Ceta oder TTIP, sagt sie zögerlich. Die 69-Jährige sieht das politische System wanken. Ihre Mission: Sie will die deutsche Demokratie retten. »Auch für die nachkommenden Generationen«, fügt sie hinzu. Grimmenstein wünscht sich einen politischen Umbruch. Der Kampf gegen das Freihandelsabkommen ist dabei eher ein Mittel zum Zweck. Grimmenstein hat das Vertrauen in »die da oben« verloren. Das Zeitalter der Bürgerpolitik habe begonnen. »Wir können uns nicht mehr auf die Parlamentarier verlassen«, sagt sie kämpferisch und hebt die Hände, als ob sie vor einer Gemeinde predigen würde. »Also packen wir es an.« Von den Politikern könne man keine langfristigen Lösungen mehr erwarten.
Es ist ein Argument, das oft auch Pegida für sich nutzt. Während die Fremdenhasser dabei aber eher die Bösen sind unter den Wutbürgern, ist Grimmenstein das Pendant, die Gute. Es ist nicht der Hass, der sie antreibt. Sondern vielmehr eine gewisse Zuversicht in die Zukunft. Und doch hat Grimmenstein das Gefühl, irgendwie handeln zu müssen.
Es ist ein Gefühl, das auch andere überkommt: Stromtrassen-Gegner, Feinde großer Bauprojekte, Flüchtlingsbefürworter oder auch -gegner, sie alle sehen sich nicht mehr richtig vertreten und wollen es lieber selbst in die Hand nehmen. Sie teilen einen gewissen aggressiven Idealismus. Ihre gemeinsame Schnittmenge: die Parteienverachtung. Politikwissenschaftler wundern sich: Die Menschen sind mehr denn je politisiert, gehen aber kaum noch wählen. Während also die Anzahl der Petitionen im Netz in die Höhe schießt, neue Parteien wie die AfD an Zuwachs gewinnen, können die alteingesessenen Volksparteien nur noch wenig punkten. Politik ohne Politiker, das ist der Traum, den viele leben wollen.
»Ich möchte die Menschen wachrütteln, ihnen zeigen, wie viel ein Einzelner verändern kann.« Hoffnung säen, Mut machen, darum geht es ihr. Legt euch mit den Mächtigen an! Ein bisschen ist es so, als hätten die Leute auch darauf gewartet, von einer wie Grimmenstein wachgerüttelt zu werden. Immerhin konnte sie bereits 40.000 Mitankläger für ein so komplexes und sperriges Thema wie Ceta gewinnen. Also was hat Grimmenstein an sich? Was kann sie versprechen, was Berufspolitiker nicht versprechen können? Wieso fühlen sich die Menschen von ihr repräsentiert? Vielleicht ist es diese Vertrauenswürdigkeit, die sie ausstrahlt, dass man ihr einfach glauben möchte. Das Geheimnis ihres Erfolges kann auch am Image liegen: Zierliche Großmutter, die Kindern Querflöte beibringt und eben in keiner Partei ist, redet jetzt mal Tacheles und verändert die Welt.
Wenn Grimmenstein von Politikverdrossenheit und der Ungleichverteilung des Wohlstands spricht, klingt sie dabei mal wie im Wahlkampf, mal, als stünde sie vor einem Hörsaal: »Viele lehnen sich zurück und lassen die Politiker allein in ihrem Handeln.« Das Ergebnis sei eine wachsende Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Grimmenstein will daher per Internetaufruf bald neue Direktkandidaten für den Bundestag finden. Das soll ihr nächstes großes Projekt sein.
Bei all dem Zorn über die »faulen Parlamentarier«, über die Institutionen, klingt sie fast euphorisch, wenn sie über die Stärke Deutschlands spricht. Es gebe so viele innovative Ideen und kluge Führungskräfte. »Deswegen setze ich mich für dieses Land so gern ein.« Die Politik, sie könne doch so viel besser sein. Ihre Wangen röten sich dabei, die Augen werden groß. Eigentlich könnte Grimmenstein selbst auf die politische Bühne wechseln. Die Fähigkeit, Menschen für eine Idee zu begeistern, hat sie.
»Ich, in eine Partei?« Grimmenstein lacht, nein, als Politikerin könnte sie sich nicht so frei entfalten. Außerdem sei das deutsche Parteiensystem sowieso am Ende, sagt sie und verweist auf die sinkenden Mitgliederzahlen von SPD und CDU. Macht ihr das Angst? »Aber nein, das ist genau unsere Chance. Sehen Sie doch«, sie zeigt auf die Vollmachtserklärungen, »sehen Sie, was ein Mensch mit einer zündenden Idee und guten Freunden alles erreichen kann.« Sieht so also die Zukunft der Demokratie aus? Viele sich ausbreitende Ein-Mann-Proteste?
Wenn Grimmenstein übrigens in Karlsruhe mit ihrer Klage scheitert, will sie vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Sie kann auch nicht anders: Wer eine Revolution anzettelt, muss sie auch zu Ende bringen.