Nach dem Tod ihres Bruders erlebt die Moderatorin Bärbel Schäfer eine Sinnkrise. In ihrer Trauer beginnt sie, intensiv nach Gott zu suchen, und fragt sich plötzlich: Gibt es eine höhere Macht?
Christ&Welt: Frau Schäfer, ist da oben denn jetzt jemand?
Bärbel Schäfer: Mein Bruder und mein Vater sind innerhalb kurzer Zeit gestorben, das war der Anlass, mich in den letzten Monaten auf eine sehr lange und intensive Trauerreise zu begeben. Eine der Fragen war dabei auch, ob ich Trost in dieser Krise bei Gott finden kann. Aber ich konnte auf meiner Reise nichts spüren, das größer ist als wir.
C&W: Gibt es Gott nicht, oder haben Sie ihn nur nicht gefunden?
Schäfer: Ich glaube nicht, dass ich an der falschen Stelle gesucht habe. Ich habe versucht, mir einen Weg zu Gott zu erarbeiten, sowohl durch intensive Gespräche mit frommen Menschen als auch durch Gebete, eine Schweigewoche und viele religiöse Rituale. Ich wollte spüren, was andere spüren. Bei Kunst, bei Kreativität, beim Zugang zur Natur empfinde ich etwas. Aber Gott ist mir bei meiner Reise weder erschienen noch ans Herz gewachsen.
C&W: Wieso haben Sie sich überhaupt auf die Suche nach Gott gemacht?
Schäfer: Nach dem plötzlichen Unfalltod meines Bruders habe ich nach Trost gesucht, nach einer Erklärung, nach Antworten. Was, wenn mein Bruder langsamer gefahren wäre? Was aber auch, wenn Gott vielleicht auf ihn aufgepasst hätte? In dieser Trauerphase, die mich isoliert hat und durch das Leben stolpern ließ, bin ich völlig aus der Spur gefallen. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt. Ich brauchte eine Kraftquelle, weil ich selbst an meine Grenzen gestoßen bin. Natürlich habe ich gezweifelt, ist das jetzt vermessen, mit 50 Jahren in einer Krise anzuklopfen und zu fragen: Ist da oben jemand?
C&W: Aber Sie stammen doch aus einer recht evangelischen Familie, sind christlich aufgewachsen.
Schäfer: Ja, das stimmt. Ich komme aus einem Elternhaus, in dem ein Elternteil gläubig ist. Mein Vater hat seinen protestantischen Glauben gelebt, er war in der Gemeinde aktiv und hat sich beim Kirchentag engagiert. Als Kinder haben mein Bruder und ich ihn ab und zu in die Kirche begleitet. Natürlich hat er versucht, das, was ihn erfüllte, an uns weiterzugeben.
C&W: Das hat nicht geklappt?
Schäfer: Als Kind konnte ich an einen gütigen Gott glauben. Aber als erwachsener Mensch fällt es mir schwer, Weisungen und Bittstellungen beim Herrn abzugeben. Für viele ist Gott eine Bereicherung, eine zusätzliche Emotionalität in ihrem Leben. Er ist frommen Menschen eine Hilfe und schenkt ihnen Trost, für das, was danach kommt. Auch ich spürte nach dem Tod meines Bruders diese tiefe Sehnsucht, ob es da oben etwas gibt, was mich trösten kann. Ich fand wunderbare Momente der Wärme an unterschiedlichen Orten, in der Synagoge, Kirche und Moschee. Ich habe atmosphärisch sehr viel mitnehmen können. Aber ein gläubiger Mensch bin ich nicht geworden.
C&W: Wenn Sie nicht an Gott glauben können, woran glauben Sie dann?
Schäfer: Ich glaube an die Menschen. An die Kraft der Liebe und des Vertrauens. In Bezug auf mein Glück oder Unglück ziehe ich aber keinerlei Verbindung zu Gott. Ich sehe es aber als ein großes Geschenk, wenn man glauben kann, auch ich bin ja in diesem Buch auf der Suche. Ich habe viele Gespräche mit gläubigen Menschen geführt und sie immer wieder gefragt: "Wie macht ihr das bloß?"
C&W: Was haben sie Ihnen geantwortet?
Schäfer: "Glauben ist wie Joggen, Bärbel, man fängt langsam an und irgendwann wird der kleine Sprint, die Kurzstrecke, zu einem lebenslangen gemeinsamen Lauf" war eine Antwort. Genauso wie der Rat an mich, die Suche weiterzuführen. Ich habe den Startschuss wohl verpasst.
C&W: Dabei sind Sie vor einigen Jahren wegen Ihres Mannes zum Judentum konvertiert.
Schäfer: Nicht nur wegen meines Mannes. Ich war und bin kein gläubiger Mensch, gehöre aber einer Religionsgemeinschaft an. Als ich meinen Mann kennenlernte, war das Judentum eine ernste Option für mich. Ich entschied mich, überzutreten, weil ich das Judentum für eine außerordentlich humanistische und dem Menschen zugewandte Tradition halte. Wir wollten beide, dass die Familie, die Kinder mit der jüdischen Religion aufwachsen.
C&W: Konnten Sie Ihre christliche Identität einfach so abstreifen?
Schäfer: Ich bin jetzt Jüdin. Das Christentum ist nicht mehr meine Gegenwart. Ich bin seit fünf Jahrzehnten auf diesem Planeten und jedes Jahrzehnt hat Schichten hinterlassen, wie Baumringe, die mein Leben widerspiegeln und die ich nicht löschen kann. Ich feiere mit meiner Mutter zum Beispiel weiterhin Weihnachten, aber muslimische Freunde laden mich auch zu ihrem Zuckerfest ein.
C&W: Aber wie passt das zusammen? Sie waren Protestantin, jetzt sind Sie Jüdin, und dennoch sagen Sie, dass Sie mit Gott nichts anfangen können.
Schäfer: Der Weg des Glaubens und der Suche nach Gott ist für mich steinig, ja, er ist auch widersprüchlich. Geprägt von Nähe und Ferne. Solange ich mich aber auf die Suche mache, denke ich, ich bin ihm verbunden, auch wenn ich nicht an ihn glaube. Wiedereintritte, zum Beispiel für einen Kindergartenplatz, eine Beisetzung oder Hochzeit, und Konversion haben oft pragmatische Gründe, nicht alle sind tiefgläubige Menschen.
C&W: Der Publizist Henryk M. Broder bezeichnet Sie als Lifestyle-Jüdin.
Schäfer: Jeder hat seinen Weg, den er geht in seiner Beziehung zu Gott. Jeder muss sich seinen Weg erarbeiten. Das ist mein Weg. Andere gehen andere Wege. Wenn es widersprüchlich wirkt, dann ist es eben widersprüchlich. Der Glaube kennt keinen Masterplan. Für mich gibt es ein Vorher und ein Nachher nach dem Tod meines geliebten Bruders und der damit verbundenen Suche nach Trost und Antworten, unter anderem auch bei Gott.
C&W: Man könnte jetzt sagen: Sie haben sich die Kultur herausgepickt, machen sich aber nicht die Mühe des Betens.
Schäfer: Glauben besteht aus Widersprüchen. Viele Menschen sind in ihrem Glauben inkonsequent. Ich auch. Viele sind Mitglied einer Religionsgemeinschaft, ohne aktiv gläubig zu sein, und trotzdem ist es für sie wichtig, weil Religion auch eine kulturelle und ethische Identität bedeutet. Ich werte niemanden, wie intensiv er seinen Glauben praktiziert. Das muss doch jeder für sich selbst entscheiden. Ich freue mich für jeden, der aus dem Gebet Kraft schöpfen kann. Als ich vor dem Autowrack meines Bruders stand, hätte ich mir auch eine zusätzliche Kraftquelle gewünscht. Mir gelingt das aber nicht.
C&W: Es ist sehr schwierig, zum Judentum zu konvertieren. Stoßen Sie manchen Juden mit Ihrer Einstellung vor den Kopf?
Schäfer: Kein Kommentar.
C&W: Sie schreiben in Ihrem Buch an einer Stelle, dass Sie sich als Glaubensverräterin fühlen. Was meinen Sie damit?
Schäfer: Gott war bisher nie eine Option in einer Krise für mich. Erst der Unfall meines Bruders bringt mich mit 50 Jahren dazu, mich zu Gott zu positionieren. Diese Suche ist mir erst bewusst geworden, als Martin und mein Vater starben. Ich war in einem Ausnahmezustand. Ich war nie eine gläubige Christin und bin auch keine fromme Jüdin. Ich bin eher wie ein passives Mitglied in einem Club.
C&W: Wenn Sie nicht an Gott glauben, warum sind Sie, statt zu konvertieren, nicht ausgetreten?
Schäfer: Wir wollen als Familie die Werte und die Gebote des Judentums an unsere Kinder weitergeben. Ich spreche mit ihnen über Nächstenliebe, Respekt und Vertrauen.
C&W: Haben Sie die Suche nach Gott aufgegeben?
Schäfer: Ich habe intensiv gesucht und bin nicht fündig geworden. Ich wollte wissen: Wie kann das Leben nach diesem Schicksalsschlag weitergehen? Andere Menschen haben andere Krisen, die sie meistern müssen. Ich halte den Tod nach wie vor für zufällig, sinnlos und willkürlich. Ich glaube nicht daran, dass mich nach dem Tod irgendwas erwartet.
C&W: Und wenn Sie Gott eines Tages doch träfen?
Schäfer: Das wäre schön, ich würde mich freuen, ihm zu begegnen. Dann würden wir uns wohl hinsetzen und lange reden. Ich würde ihn fragen, wie es ihm dabei ergeht, wenn er heute auf die Welt blickt. Aber etwas Zeit habe ich ja noch: Im Judentum sagt man immer: Bis 120! Damit hätte ich noch 70 Jahre Zeit, ihn zu finden.
Bärbel Schäfer: Ist da oben jemand? Weil das Leben kein Spaziergang ist. Gütersloher Verlag, 19,99 Euro.