Suizid gilt heute als ein Akt der Selbstbestimmung. Doch über die Hinterbliebenen wird kaum gesprochen. Wie leben sie nach dem Verlust weiter?
Als Manuela* von Utes Tod erfährt, geht sie in das Badezimmer und wirft die Zahnbürste in den Mülleimer. "Die braucht sie ja jetzt nicht mehr." Das ist ihre erste Reaktion. "Ich war wie im Vakuum, wie in Trance. Alles erschien mir so surreal. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Warum? Warum hat sie es getan?"
Vor 19 Monaten nimmt sich die Lebensgefährtin von Manuela das Leben. Sie stürzt sich in einen Kanal und ertrinkt. 10.000 Menschen bringen sich in Deutschland jährlich um, mehr als zehnmal so viele versuchen es und überleben. Insgesamt sterben hierzulande mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Mindestens sechs Angehörige sind, so wie Manuela, von einem Suizid unmittelbar betroffen, das sind 60.000 Hinterbliebene im Jahr. Hinter diesen ganzen Zahlen: Schicksale, die im Dunkeln bleiben. Verzweifelte Ehepartner, zerrüttete Familien, Trauernde, die sich alleingelassen fühlen. Über Selbsttötung wird gerade öffentlich viel gesprochen. Wenn Prominente wie der MDR-Intendant Udo Reiter oder der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf selbstbestimmt aus dem Leben scheiden, wie es dann immer heißt, analysieren Journalisten Motive. Doch über die Schicksale der Hinterbliebenen spricht niemand, erst recht nicht, wenn die Toten keine bekannten Gesichter sind. Dabei sind die Menschen, die sich das Leben nehmen, meistens in ein soziales Umfeld eingebettet, sie sind umgeben von Freunden, von Familie, haben Kinder, Kollegen. Für diejenigen, die gehen, mag der Suizid ein Akt der Selbstbestimmung sein. Doch was ist mit denen, die bleiben, die nach dem Verlust einen Weg finden müssen, weiterzuleben? Gibt es für sie so etwas wie Selbstbestimmung oder bestimmt der Suizid alles?
Manuela hat sich oft gefragt, ob sie Utes Tod hätte verhindern können, ob sie Schuld trägt, ob sie versagt hat. Hätte sie merken müssen, dass Ute nicht mehr wollte? Immer wieder geht Manuela, 48, Mitarbeiterin einer Kommunikationsagentur, jeden Moment ihres Lebens mit Ute durch. "Ute kam einfach so in mein Leben reingeschneit", erzählt sie. "Ich lernte sie auf einer Feier kennen, und es hat sofort gefunkt. Plötzlich war sie da. Ute war so lebendig, sie hat jeden Raum mit ihrer Art eingenommen. Niemand konnte sich ihrem Charisma, ihrem Lachen entziehen."
Manuela stockt. Die blonden kinnlangen Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie sitzt daheim, am Esstisch. An dem Esstisch, wo sie früher so oft mit Ute saß. Wenn sie vom ersten Tag mit ihrer Lebensgefährtin spricht, kommt ihr auch der letzte in den Sinn. Dieser eine Freitag. Das letzte Gespräch, die letzte Berührung, der letzte innige Blick. Sie hatte gespürt, dass Ute in letzter Zeit unglücklich war. Ute hatte angefangen zu trinken, ihr Restaurant lief schlecht. "Du tust dir doch nichts an?", sagt Manuela eines Abends auf dem Balkon zu ihr. Ute zieht an ihrer Zigarette, wiegelt ab. "Das mache ich nicht, mein Schatz." Am nächsten Morgen hat Manuela einen Arzttermin, sie zögert. "Soll ich lieber hierbleiben?", fragt sie ihre Lebensgefährtin. Nein, nein, antwortet Ute wieder, geh ruhig. "Na gut, ich beeile mich. Bis später." - "Ja, bis später." Manuela verlässt das Haus mit einem unguten Gefühl. Wenige Stunden später fährt Ute zum Kanal. Sie stirbt mit 49 Jahren.
Manuela ist fassungslos, bis heute. Wieso hat sie die Vorzeichen bei ihrer Lebenspartnerin nicht rechtzeitig gesehen? Und auch der Partnerin macht sie Vorwürfe: Wie konnte Ute einfach so gehen? Sie alleinlassen?
Zweieinhalb Jahre waren die beiden zusammen. Ute war die erste Frau, mit der Manuela eine Beziehung einging. Vorher gab es nur Männer. Intensiv sei die Partnerschaft gewesen, aufregend, schön, neu. Nach Utes Tod ist nichts mehr aufregend schön. Diese Einsamkeit, der Schmerz, die Schuldfrage.
Der Suizid ihrer Lebensgefährtin macht ihr zu schaffen, nein, er zermürbt sie. Manuela kann anfangs nicht alleine zu Hause zu sein. Zu Hause, in der lichtdurchfluteten Wohnung mit dem großen Wohnzimmer und der vielen Kunst an der Wand. Denn überall lauern Erinnerungen. Erinnerungen an Ute. "Hier hat sie immer ihren Schlüssel hingehängt." Manuela zeigt auf einen Haken im Flur. Sie trägt eine weiße Bluse, enge Jeans, markanten Schmuck. Eine attraktive Frau.
In der ersten Zeit, nach Utes Tod, helfen ihr enge Freunde, sie lenken Manuela so gut es geht ab. Überall wird sie mit hingenommen. Wie ein Kind, das es zu versorgen gilt. "Alleine bin ich im Schmerz erstickt. Ich war wie betäubt. Es war sehr schwierig für mich. Es ist schwierig. Ute ist von heute auf morgen gegangen und hat mein Leben als Chaos hinterlassen. Gar nichts ging mehr. Auf der Arbeit war ich überfordert, ich stand neben mir, war blockiert. Konnte keinen Satz mehr korrekt schreiben. Warum hat sie mich im Stich gelassen? Warum konnte meine Liebe sie nicht halten? Alles kreiste um sie, um ihren Tod."
Bei Manuela vermischen sich Wut und Verzweiflung. Sie geht all die Erlebnisse mit ihrer Partnerin im Kopf noch einmal durch. Sucht das Puzzleteil, das alles erklärt. Es ist, als wären die Erinnerungen unecht, sagt sie. Verfälscht. Betrogen, sagt Manuela, sie fühle sich betrogen und hintergangen. Denn Ute hat alleine gehandelt. Manuela wurde nicht mit einbezogen in die Entscheidung, ob Ute weiterleben soll oder nicht. Sie hat den Suizid mit sich ausgemacht. Und diese Ausgrenzung, die tut weh. Immer diese Frage: Warum hat sie sich mir nicht anvertraut?
"Im Nachhinein denke ich, dass Ute unter starken Depressionen litt. Sie hatte zwei Gesichter, aber mir hat sie nur ihre fröhliche Seite gezeigt. Sie hat für mich die heile Welt gespielt. An manchen Tagen denke ich mir, sie hat mein Leben versaut. Und dennoch, ich will die Zeit mit Ute nicht missen. Wir hatten so viel Spaß zusammen, so gute Momente." Manuela steht auf, geht zur Fensterbank, zeigt auf ein Foto. Eine brünette Frau lächelt in die Kamera. Ute.
Es gab eine Phase, da lag Manuela selbst nur im Bett und dachte daran, sich auch das Leben zu nehmen. Es der Freundin gleichzutun. So dunkel sah es in ihr aus. Selbstbestimmung wäre das nicht gewesen. Eher eine Selbstaufgabe.
"Ich bin müde und erschöpft, ich habe so viel Kraft aufgebracht, um nach Ute weiterzuleben", sagt Manuela. "Manchmal schaue ich auf meine jetzige Situation und denke mir, das ist nicht echt. Es ist wie ein Albtraum. Ich wache morgens auf und frage mich: Ist das wirklich passiert? Ist Ute wirklich tot? Aber das alte Leben, das existiert nicht mehr. Ich schaue von außen auf meine Situation und frage, wie es so weit kommen konnte. Ja, ich will mein altes Leben zurück. Aber das wird nicht mehr passieren. Es wird nie wieder so sein wie früher."
Manuela stellt das Foto wieder zurück auf die Fensterbank. Sie will nicht weinen. Und das wird sie auch nicht. Es ist ihr wichtig, über Suizid zu sprechen, darüber, wie es den Hinterbliebenen geht. Der selbst gewählte Tod eines nahen Geliebten wirft die Menschen um ihn herum aus der Bahn, mehr noch als ein plötzlicher Unfalltod. Der Suizid ist wie ein Erdbeben, er zerstört das Grundvertrauen. "Ich will den anderen Angehörigen Mut machen, ihnen sagen, dass sich der Schmerz verändert, dass man den Suizid einer geliebten Person überleben kann, auch wenn man selbst danach ein anderes Leben führt."
Das letzte Jahr sei für sie der Horror gewesen, sagt Manuela. Eine Achterbahn der Gefühle. Eine Achterbahn, in der man als Suizidangehöriger alleine fährt. Die Medien berichten über Sterbehilfe, über den assistierten Suizid und die Debatte im Bundestag. Doch über den ganz normalen Suizid, der nicht mit Alter oder lebensbedrohlicher Krankheit verbunden ist, spricht niemand.
"Das Umfeld verstummt, und das ist schrecklich. Man selbst läuft mit einer riesigen Wunde durchs Leben. Aber niemand scheint das zu sehen. Wie schlimm das ist, das wissen nur diejenigen, die es selbst erlebt haben. Immerhin konnte ich mit meinen Freunden darüber reden. Manche müssen den Verlust ganz mit sich selbst ausmachen, weil sich alle abwenden. Irgendwann haben auch bei mir die Leute aufgehört, Utes Namen zu nennen. Und das tut weh. So zu tun, als hätte es sie nicht gegeben, das ertrage ich nicht. Immer ist da diese Scham, die Frage nach der Schuld. Wäre Ute an Krebs gestorben, ich würde mehr Mitgefühl erfahren."
Nicht immer will Manuela über das Erlebte reden. Viele Menschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, sind überfordert. Manuela sagt, so zu tun, als sei nichts, ist keine Lösung. "Wie der sprichwörtliche Elefant im Raum, den keiner sehen möchte." Manchmal genüge eine stille Umarmung, dass jemand zu ihr sagt: "Schön, dass du wieder da bist", dass jemand signalisiert: Ich denk an dich, ich fühle mit dir.
Diese Hilflosigkeit hat auch Thorsten* nach dem Suizid seines Sohnes vor zwei Jahren erlebt. Nach einem Streit mit seiner Freundin greift der Sohn nachts zum Autoschlüssel und fährt mit seinem Wagen frontal gegen einen Baum. Der Sohn stirbt am Unfallort, jede Hilfe kommt zu spät. Seinen Suizid hatte der junge Mann der Familie mehrmals angekündigt. Thorsten sagt, er habe nicht geglaubt, dass sein Sohn das wirklich tut. Der junge Mann war psychisch krank und seit Jahren in Behandlung.
"Die meisten unserer Freunde konnten mit unserer Trauer einfach nicht umgehen. Sie hatten vor allem keine Geduld. Die erwarten dann, dass du nach wenigen Monaten wieder gut drauf bist. Aber wenn dein Sohn sich umbringt, dann hilft auch ein 'Das Leben geht weiter' nicht. Ja, das Leben geht weiter. Aber anders."
Die Familie isoliert sich, die Eltern bauen einen neuen Freundeskreis auf. Thorsten meidet große Partys, zieht sich zurück. Er erlebt, wie eine Frau die Straßenseite wechselt, als sie ihn sieht. "Sicherlich ist Suizid in unserer Gesellschaft nicht mehr das, was es mal früher war, keiner ist mir je mit Sünde und Hölle gekommen, aber doch, manche haben ein Problem damit, weil sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen."
Wenige Wochen nach dem Tod des Sohnes sucht die Familie eine Selbsthilfegruppe für Suzidangehörige auf. Auch andere Hinterbliebene sprechen von Ablehnung und Isolation. So erzählt eine Frau, wie die Familie ihres Mannes sich von ihr abwandte, nachdem dieser sich im gemeinsamen Haus erhängt hatte. "Mein Schwager sagt, ich sei schuld, weil ich einige Monate zuvor ausgezogen war. Ich hätte meinen Mann damit in den Tod getrieben. Aber was hätte ich tun sollen? Er hat getrunken, er war depressiv. Ich hätte mit unserem Sohn dort nicht bleiben können. Ich musste ausziehen. Ich wollte doch auch nicht, dass das passiert." Sie bricht den Kontakt zur Familie ihres Mannes ab, zieht in ein neues Haus.
Heute, fünf Jahre nach dem Suizid, sagt sie: "Selbst wenn man als Angehöriger merkt, dass etwas mit der Person nicht stimmt, selbst wenn man mit der gefährdeten Person spricht, sie zur Vernunft bringt, wer garantiert einem, dass die Einsicht lange währt? Wie kann man verhindern, dass ein Depressiver sich das Leben nimmt, wenn er sich nicht helfen lassen will? Ich glaube, auch wenn ich meinen Mann davon hätte abbringen können, sich in dem Moment umzubringen – früher oder später wäre er gegangen. Es war nur eine Frage der Zeit."
Auch Anne glaubt das. Dass niemand ihren Bruder hätte aufhalten können. Dass Christoph vor drei Jahren sich nicht hätte überzeugen lassen, dass das Leben lebenswert ist.
Anne ist Steuerfachangestellte, 29 Jahre alt, blondes Haar, wohnt in einer Dreizimmerwohnung im Ruhrgebiet, etwas chaotisch, aber gemütlich. Sie stellt Schokolade auf den Tisch, kocht Kaffee. "Schluck Milch dazu?", fragt sie freundlich. Sie setzt sich hin, atmet durch. Wo soll sie bloß anfangen?
Es ist ein Freitag im Oktober 2012, als sie ihren Bruder zum letzten Mal sieht. Christoph wirkt an dem Tag wie immer. "Wir haben etwas gequatscht und uns dann verabschiedet, weil ich übers Wochenende verreist bin", erinnert sie sich. Als Anne am Montag von ihrem Wochenendtrip wiederkehrt, geht sie abends zur Physiotherapie und danach schlafen. Ihr Bruder ist nicht zu Hause. Der Informatiker hat heute seinen ersten Arbeitstag bei einer neuen IT-Firma gehabt. Wie es wohl gelaufen ist? Am nächsten Tag will Anne ihren Bruder nach dem neuen Job fragen. Wahrscheinlich ist er noch unterwegs. Dass sich die beiden mal einen Tag lang nicht über den Weg laufen, passiert häufiger.
"Na ja und am Dienstag meinte meine Mutter dann zu mir: 'Du, Christoph ist uns abhandengekommen. Hast du ihn gestern oder heute gesehen?'"
Annes Bruder ist Montagnacht nicht nach Hause gekommen. Das ist ungewöhnlich. Er hat nicht Bescheid gesagt, dass er woanders schläft. Keine Nachricht, kein Anruf. Wo steckt der Junge?
"Ich hab dann versucht, ihn zu erreichen. Aber sein Handy war tot. Wir haben dann den neuen Arbeitgeber angerufen. Aber die haben seinen Namen nicht einmal gekannt. Da fing es an, seltsam zu werden."
Die Familie beginnt nachzuforschen. Wieso hat Christoph wegen des neuen Jobs gelogen? Anne recherchiert, fragt bei seinen Freunden nach. Wer hat Christoph zum letzten Mal gesehen? Ein befreundeter Polizist aus der Nachbarschaft schaltet sich ein, hilft mit.
"Und am Mittwoch, also zwei Tage nach seinem Verschwinden, da meldete sich der Autovermieter Sixt, sie würden gerne den Leihwagen abholen. Zum Teufel, welcher Leihwagen? Ich dachte mir: Okay, der Christoph, der ist jetzt durchgebrannt. Der hat sich ein Auto genommen, der ist jetzt weg, aber der kommt schon wieder."
Nach wenigen Tagen findet Anne heraus: Der Bruder hat Geheimnisse. Seit dem zweiten Semester ist er nicht mehr zur Uni gegangen. All die Jahre Studium, eine Lüge. Er hat schon lange mit Informatik aufgehört, es aber niemandem erzählt. Den neuen Job hat es nie gegeben. Und er ist verschuldet. Er hat den Dispo um mehrere tausend Euro überzogen. Da wird langsam klar: Christoph hat ernsthafte Probleme.
Gemeinsam rekonstruieren sie seinen letzten Tag. An dem Montagabend geht Christoph noch ins Kino. Zumindest sagt er das. Später wird seine Familie erfahren: Er hat sich an dem Tag, an dem er verschwand, keinen Film angeschaut. Er ist in ein Schreibwarengeschäft gegangen und hat Briefpapier gekauft, danach fährt er zu einem nahegelegenen Baumarkt.
Tagelang sucht Anne nach ihrem Bruder. Vergebens. Es vergehen zwei Wochen. Drei Tage vor seinen 31. Geburtstag wird Christoph dann gefunden. Sein Leichnam liegt in dem verkohlten Wagen, den er sich bei der Autovermietung geliehen hat. Todesursache: Kohlenstoffmonoxidvergiftung.
"Das war ein Schock. Suizid, mein Bruder? Das kann nicht sein. Ich konnte es im ersten Moment nicht fassen. Da hat er sich doch tatsächlich das Leben genommen." Anne macht eine kurze Pause, nimmt einen Schluck Kaffee und fährt dann fort: "Er hatte uns im Wagen einen Abschiedsbrief hinterlassen, und das hat zumindest mir sehr geholfen, zu verstehen, warum Christoph gegangen ist. Denn es wurde deutlich, dass er schon lange nicht mehr leben wollte. Er war unglücklich. Sehr, sehr unglücklich. Dass er so traurig war all die Jahre, das tut mir weh. Das wussten wir doch nicht."
Die 29-Jährige schaut jetzt hoch. Ja, das war Christophs Tod. Kein Weinen, keine Wut. So ist er gestorben. Das war seine Geschichte. Und ihre? Wie geht es ihr damit?
"Ach, mein Bruder hatte ja schon immer Humor. Er hat in seinem Abschiedsbrief geschrieben, dass er gerne verbrannt werden würde. Das passe doch gut zu seinem Abgang. Und als ich das las, so total verheult und fertig, da hab ich richtig gelacht. Ich habe ihn in den Zeilen wiedererkannt, ihn vor mir gesehen und wusste: Christoph wollte sterben. Er hat den Tod bewusst gewählt. Und das kann ich nicht übel nehmen. Ich kann ihm nicht böse sein."
Einen Moment lang herrscht Stille. Hat Anne den frei gewählten Tod ihres Bruders einfach so akzeptiert? Nein, nicht einfach so, sagt sie. Aber ja, sie respektiere Christophs Entscheidung, seinen Alleingang. Sie sagt, jeder dürfe gehen, wenn er nicht mehr kann.
Anne fängt an zu erzählen, von der schweren Zeit, in der alles dunkel war. Sie habe viel geweint, sehr viel. Und sie vermisst ihren großen Bruder. Jeden Tag. Doch sein Tod sei selbstbestimmt gewesen, und mit dieser Selbstbestimmung kann sie, anders als ihre Eltern, umgehen. Es so zu sehen erleichtert das Weiterleben. Denn Selbstbestimmung heißt: Er durfte das. Und: Ich bin nicht schuld.
Auch Anne hat vor vielen Jahren versucht, sich das Leben zu nehmen. Im Wald, wie Christoph. Mit Schlaftabletten. Diese Verzweiflung, diese tiefe Schwärze, die große Leere, das kennt sie.
"Ich war vor allem sauer, dass die anderen so sauer auf Christoph waren. Niemand konnte verstehen, wie ein junger gesunder Mann 'Selbstmord' begehen kann. Meine Eltern haben sich viele Vorwürfe gemacht."
Selbstmord. Das Wort empfinden Hinterbliebene oft als Kränkung. Selbsttötung, Suizid, ja – aber der geliebte Angehörige ein Mörder seiner selbst? Nein. Das passt nicht, denn es spricht ihm jede Vernunft ab. Anne sagt, die Entscheidung über den Zeitpunkt des eigenen Todes gehöre zu den persönlichen Freiheiten eines Menschen. Auch wenn es die Hinterbliebenen schmerze.
Wäre ihr Bruder bei einem Autounfall gestorben, wäre sie wütend auf denjenigen gewesen, der die Tat verursacht hätte. Mit Christophs Entscheidung könne sie besser leben. Irgendwie. Vor allem an Weihnachten und an ihrem Geburtstag fehlt er ihr. Um Punkt Mitternacht meldete er sich immer bei ihr, um zu gratulieren. Happy birthday, kleine Schwester. Das ist nicht mehr. Das fehlt. Eine Freundin hat diese Aufgabe jetzt übernommen. Über den Suizid ihres Bruders spricht Anne offen, ohne Scham. Warum sollte sie daraus ein Geheimnis machen?, fragt sie. Schlechte Erfahrungen, Ablehnung, das hat sie nie erfahren. Nicht im Freundeskreis, nicht bei den Kollegen. Auch nicht, als sie den Priester darum baten, ein paar liebevolle Worte über den Bruder auf der Beerdigung zu sprechen. "Ich glaube, viele sind verwundert, dass ich nicht jedes Mal losheule, wenn ich übers Christophs Tod spreche. Doch Suizid gehört zu meinem Leben leider dazu." Nach dem Bruder nahm sich ein Bekannter von ihr das Leben, und vor einem Jahr vergiftete sich ein guter Freud. "Mit dem hatte ich kurz zuvor hier in der Wohnung noch das Laminat verlegt, und auch da hab ich es einfach nicht gemerkt."
Anne hat sich am Handgelenk den Namen ihres Bruders tätowieren lassen. "Christoph" steht dort in geschwungenen Lettern. Man sieht es aufblitzen, wenn sie sich mit der Hand durchs Haar fährt. Es ist ihr wichtig, die Erinnerung an den Bruder zu bewahren. Ein Teil von Christophs Asche befindet sich in ihrem Wohnzimmer. In der Urne, die im Bücherregal steht. Gleich neben der DVD-Box von "Sex and the City".
*Namen von der Redaktion geändert
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