Abgehört - neue Musik Rotationen im Lockdown-Labor
Kurz vorm Durchdrehen? Rein in den Minivan! So wie Elektropop-Muse Jessy Lanza. Kamaal Williams und Otis Sandsjö gehen ins Jazz-Labor, Courtney Marie Andrews trauert in Schönheit. Die Alben der Woche. Jetzt mit Apple-Music-Playlist!
Jessy Lanza ist wütend. Auf Männer, die Frauen klein halten. Auf die nicht erfüllbaren gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen. Kind oder Karriere? Power Suit oder Kleidchen? Weglächeln oder konfrontieren? Da kann man schon mal ins Rotieren kommen. "I'm gonna act out instead of look cute", drohte sie deshalb in "Lick In Heaven", der ersten Single aus ihrem dritten Album "All The Time". Paradoxerweise klingt sie mit ihrem unverkennbaren, mädchenhaft-süßen Gesang, irgendwo zwischen Janet Jackson und FKA Twigs, ziemlich cute, während sie diese Zeile singt.
Auch der fluffige Elektropop mit 808-Retro-Vibes und eingängigen R&B-Hooks, den die 34-Jährige wie gewohnt gemeinsam mit Jeremy Greenspan (Junior Boys) produziert hat, verrät nichts über ihr aufgewühltes Inneres. Wie die übertrieben gut gelaunten Morning-Show-Moderatorinnen, die im zugehörigen Video zum Song ihr Publikum geradezu aggressiv zum Tanzen animieren, versteckt Jessy Lanza ihre wahren Emotionen hinter einer vermeintlich freundlichen Fassade. Denn sie weiß: "Once I'm spinning, I can't stop spinning" - die gefühlt schon tausendfach gehörte Hook wird bei Lanza zum wütenden Wirbelsturm, der, getarnt als sanfte Dance-Pop-Brise, einmal kräftig die Geschlechterverhältnisse durchfegt.
Auch die aktuelle Corona-Situation kann durchaus wütend machen. Wegen der Pandemie musste Lanza ihre Europatournee beenden und zurück in ihre Wahlheimat New York. Ihre Wohnung war allerdings bereits weitervermietet. Also zog sie kurzerhand in ihren Toyota-Minivan, fuhr quer durchs Land nach Kalifornien und schrieb neue Songs. Auf dem Albumcover, das bereits 2019 entstand, sitzt Lanza in genau diesem Kleinbus, Safe-Space und mobiles Lockdown-Labor zugleich. Dass man im Leben nichts planen kann, aber in all den unerwarteten Wendungen eine gewisse Schönheit liegen kann, auch darüber reflektiert "All The Time" musikalisch: Gurgelsounds, Bleeps und Knarzer zerkratzen den hochglänzenden R&B-Lack des Albums - zufällig entstandene Sounds aus Experimenten an zahlreichen modularen Moog-Synthesizern, mit denen Lanza ihren einzigartigen Sound texturiert.
Mit ihrer Mischung aus glitzerndem Pop und nerdigem Understatement hat sich die Kanadierin seit Beginn ihrer Karriere einen Platz bei den Cool-Kids der elektronischen Klubwelt gesichert: 2013 kollaborierte sie mit ihrer Hyperdub-Kollegin Ikona, ein Jahr später war sie auf dem Szene-Hit "Our Love" von Caribou zu hören und ging mit ihm auf Tournee. Kürzlich spielte sie für ihr erstes Boiler-Room-Feature ein energetisches Hybrid-Set zwischen Trap, House und Breakbeats - gestreamt aus dem Kofferraum ihres Vans. Improvisation und Live-Feeling bleiben Jessy Lanzas kreativer Motor und Steckenpferd, auch wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen kann. Aber wenn man sich den Social-Distance-Jam im Video zu "Anyone Around" anschaut, muss man sich kaum sorgen, dass sie allzu bald aufhört, sich weiterzudrehen. (7.9) Laura Aha