Die musikalische Geschichte Martin Kohlstedts beginnt mit der A-Taste auf dem Klavier. Immer wieder drückte er als 12-jähriger diese Taste, im Takt des Tickens der Wohnzimmeruhr, steckte den Kopf in den Klangkörper des Klaviers und hörte einfach nur hin. Dass in dieser Faszination für Beat und minimalistische Melodien wahrscheinlich bereits der Grundstein für seine spätere Liebe zur elektronischen Tanzmusik lag, war damals natürlich noch längst nicht absehbar. „Ich habe drei Jahre lang nur einzelne Töne aneinandergereiht und das sehr meditativ genossen", erinnert sich der heute 31-Jährige in einem Café nahe dem Berliner Alexanderplatz. Geschirr klappert, hektische Kellner balancieren Tabletts zwischen den engen Tischreihen, unablässig schwingt die Tür und spuckt Menschen auf die viel befahrene Straße.
Martin Kohlstedt wirkt wie ein Ruhepol in all dem Trubel. Wenige Tage später startet seine Tour mit dem GewandhausChor Leipzig durch die großen klassischen Säle des Landes, Laeiszhalle Hamburg, Konzerthaus Berlin, Alte Oper Erfurt - mit einer freien Komposition namens STRÖME, bei der man nie genau planen kann, was auf der Bühne letztendlich passieren wird. Nervös wirkt er deswegen nicht. Eher in Vorfreude, begeistert darüber, zur kindlichen Intuition seiner Anfangstage zurückgefunden zu haben.
Diese wurde ihm nämlich, laut eigener Aussage, mit der Klavierausbildung, die er mit 15 begann, ziemlich schnell ausgetrieben. „Ich habe wie mit einem Filzstift alles übermalt, was ich an kindlicher Intuition begonnen hatte. Und heute versuche ich, das wieder zu vergessen, zurückzukehren."
Aufgewachsen in der thüringischen Provinz war der Wunsch Musiker zu werden in seiner Familie etwa so realistisch wie Astronaut. Dennoch legte Martin Kohlstedt eine ziemlich steile Karriere im Popbereich hin: Er war Teil mehrerer Hip-Hop-Kombos, spielte die großen Festivalbühnen und war sogar mit Clueso beim Bundesvision-Songcontest. Dann stieg er aus.
Neoklassik: Ein Label mit „Cringe-Faktor"
„Irgendwann ertappt man sich mit einer Kapuze, die man so halb auf dem Kopf hat, und weiß, dass man so weit weg von dem Ursprünglichen, Zarten, Kindlichen ist, das man eigentlich erstmal hätte verarbeiten müssen, bevor man sich eine Persona auferlegt, die cool wird. Da gab es irgendwann einen Riss." In einem radikalen Schritt stieg er mit 23 aus sieben Bandprojekten gleichzeitig aus. Er kehrte dahin zurück, wo er hergekommen war: zur A-Taste am Klavier. „Es war schön, dieser Coolness den Rücken zu kehren und wieder in irgendwelchen Cafés zu spielen, statt auf dem splash! Festival", erinnert er sich. Also: Klassik als Befreiungsschlag aus dem engen Korsett des Popbusiness'?
„Fast, bis auf das Wort 'klassisch'", sagt Kohlstedt und lacht. Musikerinnen und Musikern wie Nils Frahm, Henrik Schwarz oder Hildur Guðnadóttir, die sich heute mit „klassischen" Instrumenten beschäftigen, gleichzeitig aber auch im weiteren Feld des Pop - wie in Martin Kohlstedts Fall mit elektronischer Clubmusik - unterwegs sind, wird aus Ermangelung eines besseren Genrebegriffs oft das Label „Neoklassik" übergestülpt. Wie die meisten hadert auch Martin Kohlstedt mit dieser Zuschreibung. Den gewissen „Cringe-Faktor", der diesem Genre innewohnt, kann man auch aus seinem Pressetext herauslesen: „Martin Kohlstedt kann man am besten dem Genre Neoklassik zuschreiben. Das wird ihm aber nicht wirklich gerecht, weil er weitaus vielschichtiger ist und sich musikalisch unterschiedlichster Strömungen bedient."
„Es war schön, der Coolness den Rücken zu kehren und in Cafés zu spielen, statt auf dem splash!"
Er selbst findet das Label zu eng und stört sich an dem historischen Ballast, der dabei stets mitschwingt, etwa, wenn er und seine Kolleginnen und Kollegen als „Neue Meister" bezeichnet werden. „Gerade, wenn sich etwas kindlich Schönes entwickelt, fängt schon wieder eine Elite an, einen Rahmen darum zu bauen und das System festzuzurren." Es sei einfach noch zu früh, diese Gruppe zu katalogisieren, zumal, wenn die einzige Parallele sei „all diese Klaviere in einem begrifflichen Eimer" zu werfen.
Zwischen Dancefloor, Soundexperiment und Konzertsaal
Martin Kohlstedt rein als Pianisten zu begreifen, greift auch viel zu kurz. Seinen Bezug zum Club hat er bis heute nie ganz aufgegeben. Angefangen im Umfeld des Jenaer Tech-House-Labels Freude am Tanzen mit Kollaboratoren wie Mathias Kaden und Marek Hemmann, spielte er Klavierkonzerte auf der Fusion und in Techno-Clubs. Auf dem diesjährigen Burning Man installierte er in der Wüste Nevadas eine KI-gesteuerte Soundmaschine, die „gelernt" hatte, sein Spiel zu imitieren und aus den Umgebungsgeräuschen eine neue Komposition zu kreieren. Künstlerische Freiheit bedeutet für Martin Kohlstedt, sich nicht zwischen diesen vermeintlich fremden Welten entscheiden zu müssen: Ob futuristisches Soundexperiment, Four-to-the-Floor oder Elbphilharmonie - irgendwie scheint sein Sound überall perfekt reinzupassen. Wie geht das?
„Es triggert in jedem das gleiche Gefühl. Ob das eine crémantschwenkende, beinüberschlagende Klassik-Oma ist, die auf irgendwas Besonderes wartet oder jemand, der auf dem Fusion-Festival ganz offen in diese Musik reingeht." Seine Musik wolle keine Bewertung erfahren, sondern dazu einladen, sich zurückzulehnen und mit sich selbst ins Gespräch zu kommen. Deshalb sei der Vorwurf, die sogenannte Neoklassik sei zu seicht oder leicht zu verdauen auch sinnlos - gehe es doch gerade darum, durch die Musik einen Zugang zu sich selbst zu finden.
Die musikalische Schnittmenge zwischen Dancefloor und Konzertsaal sieht Martin Kohlstedt im Prinzip der Wiederholung. „Du hast ein Modul. Dann spielst du die Melodie im Kreis, immer wieder im Kreis. Der Prozess, bis das Stück entsteht, ist für mich viel spannender, als wenn es fertig ist. Dass du das drei Tage durchgespielt hast, durchgetanzt hast. Du musstest es so richtig köcheln lassen." Denn hinter der schlichten Wiederholung des Tons A im Takt der Wohnzimmeruhr kann manchmal eine ganze Welt liegen.
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