Die digitale Transformation von Wirtschafts- und Arbeitswelt empfinden viele Deutsche als befremdlich. Einigen macht sie sogar Angst. „Ich komme da gar nicht mit, immer gibt es etwas Neues“, sagt Rüdiger Müller. Der Elektroingenieur ist kurz vor dem Ruhestand. Der Ausdruck „Industrie 4.0“ kommt ihm bekannt vor, wirklich etwas damit anfangen kann er aber nicht. „Das ist so ein abgehobenes Gehabe“, pflichtet ihm Bäckereifachverkäuferin Claudia Schmitt bei. Die beiden sind an einem Dienstagvormittag in der Kölner Innenstadt unterwegs. „Da geht es doch nur um den Gewinn der großen Firmen“, sagt Müller.
Diese Haltung ist weit verbreitet: Rund die Hälfte der Deutschen erwartet keine positiven Effekte der Digitalisierung auf die Gesellschaft, zeigt die Studie „Technik Radar 2019“ von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Körber Stiftung. Positive Effekte auf die Wirtschaft hingegen erwarten die meisten.
Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja hält das für wenig überraschend, denn Digitalisierung wird hierzulande meist nur im wirtschaftlichen Kontext kommuniziert. „Die Erzählung von der ‚Industrie 4.0‘ ist eine erfolgreiche Werbekampagne“, sagt die Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts an der Universität Göttingen. Diese Kampagne nützt vor allem den Werbenden. Sie sei von der Industrie auf der Hannover Messe 2011 mit einer klaren Botschaft gestartet worden: Die Industrie brauche staatliche Unterstützung, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. „Es ist beeindruckend, wie gut das funktioniert hat“, sagt Mayer-Ahuja. Es gibt zahlreiche Initiativen und Forschungsprogramme zur „Industrie 4.0“. Digitalisierung in Deutschland wird daher häufig nur aus Industrieperspektive gedacht. Menschen wie Müller und Schmitt können sich damit kaum identifizieren.
„Die politische Diskussion über die Digitalisierung ist viel zu technikbezogen“, sagt Thordis Bethlehem, Präsidiumsbeauftragte für Digitalisierung beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Die Debatte sollte sich ihrer Ansicht nach stärker um die Bedürfnisse der Bevölkerung drehen, weniger um die der Industrie. „Politiker sollten sich fragen: Wie bekommen wir es hin, dass die Chancen der Digitalisierung von möglichst vielen Menschen genutzt werden können?“, sagt Bethlehem. Denn Chancen gebe es viele. „Die Herausforderung ist, die digitalen Möglichkeiten so zu nutzen, dass sie auch unserer psychischen Gesundheit dienen“, sagt sie. Auch die Angst könne man den Menschen häufig nehmen, wenn man Chancen aufzeige, die durch die Digitalisierung für sie entstehen.
Soziologin Mayer-Ahuja mahnt daher zur Vorsicht bei der Verwendung von Schlagworten wie „Industrie 4.0“. „Der Begriff ist irreführend“, sagt sie. Teilweise werde behauptet, dass durch Digitalisierung die Hälfte aller Arbeitsplätze ersatzlos verloren ginge. „Solche Prognosen beruhen darauf, dass man nur über das technologisch Mögliche diskutiert, nicht über das, was organisatorisch und wirtschaftlich umsetzbar ist“, sagt sie. Stattdessen sei eine Debatte darüber wichtig, wie Arbeit in der Zukunft organisiert und verteilt werden soll. „Andernfalls kommt es Mitarbeitern so vor, als komme die Digitalisierung wie eine böse Naturgewalt über sie.“ Es muss geklärt werden: Wie werden die neuen Technologien in Arbeitsabläufe eingebunden? Was heißen sie konkret für den Arbeitsalltag? Und wie kann man sie sinnvoll für die Gesellschaft einsetzen?
Eine Vision für eine Digitalisierung der gesamten Gesellschaft gibt es in Deutschland nicht, in anderen Ländern aber durchaus. Japan hat ein Regierungsprogramm mit dem Namen „Society 5.0“ gestartet. Die Gesellschaft gelange in ihre fünfte Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, wird dort suggeriert. Erst waren wir Jäger und Sammler, dann kamen das Agrar-, das Industrie- und das Informationszeitalter. Nun komme die Vernetzung.
Die Formulierung „Society 5.0“ sei eine Antwort auf die von Deutschland ausgerufene „Industrie 4.0“, sagt Ulrike Schaede, Direktorin des Japanischen Forums für Innovation und Technology an der UC San Diego. „Im Kern geht es darum, dass Japan wettbewerbsfähig bleiben muss, und das auf eine demokratische Art und Weise“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin. Man wolle einen wirtschaftlich starken Gegenpol zu dem immer stärker werdenden China bilden.
Das heißt: Obwohl das japanische Regierungsprogramm die Gesellschaft schon im Namen des Programms in den Mittelpunkt stellt, ist die Grundmotivation hinter den Bemühungen eine wirtschaftliche. Wie es einer Gesellschaft geht, hängt zwar wesentlich an ihrer wirtschaftlichen Situation. Doch wenn nicht alle Bürger den digitalen Wandel mitgehen, wird auch nur ein Teil von dem neuen Wachstum profitieren.
Und ob ein an hauptsächlich wirtschaftlichen Zielen ausgerichtetes Programm in Japan fruchten wird, ist zudem auch wegen der Ausgangslage in dem ostasiatischen Land fragwürdig. Einerseits stehen wenigen jungen Japanern sehr viele alte Bürger gegenüber. Die älteren Teile der Bevölkerung in die digitale Transformation mit einzubeziehen, kann schwierig sein. „Sie haben oft Angst, Fehler zu machen, und beginnen erst gar nicht, sich mit neuen Technologien zu beschäftigen“, sagt Franz Waldenberger, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio.
Andererseits stellt sich die Frage, wie viel Mehrleistung und digitale Bildung die Japaner noch aus eigener Kraft stemmen können. Die Bürger sind in Bezug auf Leistung schon jetzt oft nah am Limit. In japanischen Firmen wird es als unhöflich angesehen, vor dem Chef das Büro zu verlassen – auch wenn schon alle Arbeit getan ist. Daher sind die Arbeitszeiten oft quälend lang, Feiertage gibt es kaum. Pro Jahr hat ein Japaner in der Regel nur 20 Urlaubstage. Da Fehler kaum toleriert werden, verschleißt die Arbeitskultur viele Menschen schonungslos. Es gibt auf Japanisch sogar ein eigenes Wort für den Tod durch Überarbeitung – Karoshi.
Und trotzdem: Die Digitalisierung sei zu weit fortgeschritten, um zu diskutieren, ob man sie wolle oder nicht, betont Waldenberger. „Das sieht man zum Beispiel an der Problematik der Fake News“, sagt er. „Digitale Nachrichten kann man nicht mehr einfach so unterbinden und gleichzeitig sind Fake News und die Bildung von Meinungsblasen ein großes Problem für unsere Demokratien.“ Die wichtige Frage sei daher, wie die Digitalisierung gestaltet werde.
Und da für Deutschland die Vision aus Japan nicht zu taugen scheint, ist es höchste Zeit, sich Gedanken zu machen, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen könnte. Waldenberger findet: Es muss ein offener Diskurs mit allen gesellschaftlichen Akteuren geführt werden. Das Programm „Society 5.0“ komme ohnehin bei den meisten Japanern kaum bewusst an. Es sei vor allem unter Politikern, in der Industrie und Wirtschaft sowie unter Wissenschaftlern bekannt. „Damit die Menschen bei der digitalen Transformation ausreichend einbezogen werden, braucht es Foren hierfür“, sagt Waldenberger.
Die japanische Regierung präsentiert ihre Vision der „Society 5.0“ in aufwändigen Produktionen, die die Digitalisierung an keiner Stelle kritisch hinterfragen. Ein Video zeigt beispielsweise ein kleines Mädchen, das ein Paket in ein kleines Bergdorf per Drohne geliefert bekommt, gestresst zur Schule hetzt und auf dem Weg von einem autonom fahrenden Bus eingesammelt wird. Das Mädchen redet morgens länger mit ihrem Sprachassistenten als mit Menschen, die sie trifft.
Dass Deutschland sich für eine ähnliche Vision entscheiden könnte, ist nicht unrealistisch. Angela Merkel äußerte sich bereits angetan über das Konzept. Auch Bildungsministerin Anja Karliczek zeigte sich bei ihrem jüngsten Besuch in Tokio begeistert. Wie gut das bei Menschen wie Müller und Schmitt ankommt, ist fraglich. Denn wer schon bei den techniklastigen Präsentationen der „Industrie 4.0“ skeptisch wird, den dürfte die Vision unkritische Präsentation einer „Society 5.0“ erst recht ängstigen. Schnell stellt sich die Frage: Wird die Gesellschaft zur smarten Fabrik, in der es nur darum geht, Prozesse zu optimieren?
„Dass das Programm teilweise sehr utopisch wirkt, ist gewollt“, beschwichtigt Waldenberger zwar. Die Machart wirke auf deutsche Augen befremdlich, weil die Kommunikation der Politik mit der Gesellschaft in Japan anders funktioniere. „In Japan ist es sehr wichtig, den Eindruck zu vermitteln, dass alles ganz harmonisch über die Bühne gehen wird“, sagt er. Die Risiken würden bewusst ausgeblendet.
Alle Länder müssten sich dringend auf einer breiteren Ebene als nur der wirtschaftlichen mit der Digitalisierung beschäftigen, betont Waldenberger. „Das heißt nicht, dass das zu den gleichen Lösungen führen wird“, sagt er. „Ich glaube eher, dass wir alle ähnliche Diskussionen führen müssen, dass die Implementierung aber lokal sehr unterschiedlich sein muss.“ Sie müsse zu den gesellschaftlichen Charakteristika passen. Daher wäre es auch nicht richtig, in Japan ein Vorbild zu sehen.
Wichtig ist es auf jeden Fall, dass schnell etwas passiert. Denn wenn wir nicht festlegen, welche Digitalisierung wir uns wünschen, kann der technologische Fortschritt Fakten schaffen, die nicht mehr reversibel sind. Wollen wir eine Gesellschaft formen, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht, oder überlassen wir die Gestaltung Akteuren, die weniger soziale Motive haben? Vielleicht braucht es sogar einen neuen Gesellschaftsvertrag, wenn immer mehr Aufgaben an Maschinen delegiert werden. Wer bindet beispielsweise Roboter daran, im Sinne der Menschen zu arbeiten? Und was genau ist überhaupt im Sinne der Gesellschaft?
Dr. Kira Marrs vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München ist überzeugt, dass nicht die menschlichen Bedürfnisse ans digitale Zeitalter angepasst werden müssten, sondern umgekehrt. „Die aktuelle Umbruchsituation ist eine historische Chance, um die Digitalisierung so zu gestalten, dass sie eine geschlechtergerechtere Gesellschaft hervorbringen kann“, sagt sie. Sie engagiert sich in einem neuartigen Forschungsprojekt. Darin will sie mit ihren Kollegen erarbeiten, wie Unternehmen eine nachhaltige, menschengerechte Digitalisierung umsetzen können. Es geht ihr um die bewusste Steuerung der Digitalisierung in Bahnen, die für die Gesellschaft wünschenswert sind.
„Wir arbeiten dafür mit einer Reihe unterschiedlicher Unternehmen zusammen, vom Start-up bis zum Dax-Konzern“, sagt Marrs. Der Fokus auf Gender-Gerechtigkeit sei ein Lackmustest für die digitale Transformation. Wenn es gelinge, eine gendergerechte Digitalisierung zu gestalten, wäre es vermutlich auch möglich, eine für alle gesellschaftlichen Gruppen gerechte Digitalisierung umzusetzen. Auch Marrs hält das deutsche Konzept der „Industrie 4.0“ für zu kurz gedacht. „Die Politik sollte in Zeiten, in denen Angstszenarien die Debatte über die digitale Transformation dominieren, eine neue Leitorientierung entwickeln, die den Menschen Lust auf Zukunft macht“, findet sie. Es brauche einen Positiv-Entwurf der digitalen Zukunft - für die gesamte Gesellschaft.