Es ist ein beruhigender Gedanke, dass selbst Schriftstellerinnen nicht immer begreifen, welche Geschichten sie in ihren Büchern erzählen. Der Roman Gespräch mit einem Vampir erschien 1976 und entwickelte sich zu einem Dauerbrenner des Genres. Dass dabei eine komplizierte queere Liebesgeschichte im Zentrum stand, kapierten die meisten Leserinnen sofort, die Autorin Anne Rice aber erst, als die Fanpost einzutrudeln begann.
Als Auftakt der Romanreihe Chronik der Vampire behandelte Gespräch mit einem Vampir die Geschichte des Franzosen Louis de Pointe du Lac, der im New Orleans des späten 18. Jahrhunderts erst von dem Vampir Lestat de Lioncourt gebissen und dann einvernehmlich zu dessen Gefährten gemacht wird. Jahrelang leben die beiden zusammen, adoptieren mit der fünfjährigen Claudia sogar eine Ziehtochter, deren Gebaren allerdings einen Keil zwischen sie treibt. Louis geht nach Europa, trifft dort einen anderen Mann, kann sich aber - wie ein weiteres Treffen Jahrzehnte später beweist - nie ganz aus dem Bann Lestats befreien.
1994 wurde der Stoff als Interview mit einem Vampir unter der Regie von Neil Jordan mit Brad Pitt als Louis, Tom Cruise als Lestat und der damals 12-jährigen Kirsten Dunst als Claudia verfilmt. Die Adaption gilt heute als ikonisch - obwohl sie für ihren maximal impliziten Umgang mit der homoerotischen Dimension der Beziehung kritisiert und der thematischen Komplexität ihrer literarischen Vorlage trotz Überlänge auch sonst nicht gerecht wurde.
Es scheint also in mehrerlei Hinsicht gerechtfertigt, dass Interview mit einem Vampir nun in Überüberlänge, das heißt als Serie, neu herauskommt, nachdem Rice im Jahr 2020 die Rechte an der gesamten Chronik der Vampire an das Medienunternehmen AMC Networks überschrieben hatte. Interview mit einem Vampir listet die 2021 gestorbene Rice und ihren Sohn Christopher als ausführende Produzenten, aber beide sollen keinen Einfluss auf die kreative Gestaltung der Serie gehabt haben.
Interview mit einem Vampir ist Neuinterpretation und Fortsetzung des bekannten Stoffs zugleich: Gut ein halbes Jahrhundert nach ihrem ersten Treffen lässt Louis (Jacob Anderson) den Journalisten Daniel Molloy (Eric Bogosian) nach Dubai einfliegen. Er will seine Geschichte noch einmal erzählen. Um "Wahrheit und Versöhnung", sagt er, gehe es ihm. Was man auch so verstehen kann, dass die Serie die Fehler und Auslassungen des Kinofilms nachzubessern verspricht.
Dass der Showrunner Rolin Jones die Vampire sichtbar als queer inszeniert, ist nicht die einzige Korrektur beziehungsweise Ausdeutung von Rices Vorlage, die im Verlauf der siebenteiligen ersten Staffel von Interview mit einem Vampir erfolgt. Im Roman wie auch in Jordans Kinoverfilmung nimmt die Geschichte in der Kolonialzeit ihren Anfang, und Louis ist Herr über eine Indigoplantage, das heißt ein Sklavenhalter. In der neuen Version entstammt er einer kreolischen Mittelschichtsfamilie und verdingt sich in New Orleans während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Bordellbetreiber.Die Verschiebung des historischen und sozialen Rahmens und der qua Identität determinierten beziehungsweise stigmatisierten Rollen der Figuren ermöglicht es Jones, bereits vorhandene Leitmotive aus der Vorlage noch deutlicher ins Visier zu nehmen. Immer wieder treibt die Konfrontation mit Homophobie und Rassismus den Plot und auch das Miteinander von Louis und Lestat (Sam Reid) an. Bei Rice diente Vampirismus gleichermaßen als diegetischer Brandbeschleuniger wie auch als Metapher für eine Stellung außerhalb der Gesellschaft. Ihre Einbettung in soziale Konflikte konkretisiert dies nun bei Jones.
Damit verengt der Showrunner allerdings auch den Interpretationsspielraum seines Publikums. Beispielsweise war Louis' anfängliche Weigerung, sich vom Blut der Menschen zu ernähren, in der Romanvorlage noch als moralische Auseinandersetzung mit ausbeuterischen Systemen zu verstehen. Vor allem Prostituierte, Sklaven und andere Entrechtete dienen Lestat im Buch als Beute. Louis knabbert während der Menschenjagd seines Gefährten an moralisch weniger verfänglichen Ratten-Snacks.