Die mit der Pandemie einhergegangenen Einschränkungen wurden in diesem Jahr weitgehend aufgehoben, ein schöner Neustart aber sieht anders aus. Krieg, Energiekrise und Inflation: Die Zeiten sind schlecht und die Aussichten noch schlechter. Die Musik klingt jedoch aufgekratzter denn je. Die wirbelnden Arpeggien und satten Flächen von Trance, die überzuckerten Hooklines von Pop-Songs aus den Neunzigern und Nullerjahren sind von den wiedereröffneten Dancefloors nicht wegzudenken. Es gibt eine Theorie, die gleichermaßen naheliegend wie weit hergeholt wirkt, und die dieses Phänomen erklären könnte: Wann immer es zu ökonomischen, sozialen und politischen Krisen kommt, flüchtet die Gesellschaft auf den Dancefloor.
Naheliegend scheint diese Theorie deshalb, weil sie sich historisch untermauern lässt. Als Disco die Clubs von New York eroberte, stand die Stadt buchstäblich in Flammen. Sogar der vermeintlich gut gelaunte Italo Disco war ein Produkt der sogenannten Jahre aus Blei voller Gewalt und Attentaten. Als in Detroit Techno erfunden wurde, erlitt die ehemalige Autometropole einen graduellen wirtschaftlichen und sozialen Kollaps. Der Second Summer of Love in Großbritannien folgte einem Jahrzehnt unter Margaret Thatcher und damit Jahren der Gewalt und des gezielten Abbaus sozialer Sicherheiten. Und so weiter, und so fort.
Ähnliches ließ sich auch hierzulande beobachten: Als die Berliner Clubszene und die Loveparade zum internationalen Aushängeschild der deutschen Wiedervereinigung wurden, eröffneten sich direkt nach der bis heute bestehende ökonomische und soziale Gefälle zwischen alten und neuen Bundesländern und brannten im Westen wie im Osten Asylheime. Und als sich Minimal Techno aufrappelte und von unter anderem dem Erfolg des Films Berlin Calling gestützt die Berliner Szene (wieder) weltweit bekannt machte, ritt diese auf einer Resignationswelle, die von einer globalen Wirtschaftskrise losgetreten wurde.
Als weit hergeholt könnte eine Aufzählung dieser historischen Gleichzeitigkeiten deshalb verworfen werden, weil Korrelation nicht gleich Kausalität ist. Soll heißen: Nur, weil etwas simultan zueinander geschieht, muss es noch lange nicht zusammenhängen. Ebenso ließe sich einwenden, dass ja irgendwie immer und überall gerade eine Krise abläuft und dass ungeachtet dessen ständig getanzt wird. Oder dass es schlicht menschlich ist, Stress, Angst und Unsicherheit mit hedonistischem Eskapismus zu begegnen, wann immer es möglich ist.
Und dennoch lässt sich fragen, warum die Musik in dieser Szene in den vergangenen Jahren immer greller wurde, während die Aussichten sich verdüsterten. Musikgeschichtlich gefragt: Was bitteschön ist zwischen dem Siegeszug des Berghain-Technos am Ende der Minimal-Ära, das heißt stilprägenden Tracks wie Ben Klocks „Subzero", und dem heutigen Wirrwarr aus Trance-Hymnen und Trash-Pop auf den Dancefloors dieser Welt passiert?
Eine Antwort darauf lässt sich freilich genau so gut in musikalischen und medialen Entwicklungen finden. Angefangen mit den tradierten Retro-Rhythmen der Musikgeschichte bis hin zur Popularität bestimmter Stile, die bei Boiler Room oder HÖR gut vor der Kamera funktionieren, ergeben sich bestimmten Dynamiken auch abseits größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Sie könnten aber auch als Spiegelung und Kommentar auf noch viel umfassendere Bewegungen ideologischer, medialer, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Natur verstanden werden. Das heißt auch: als Bankrotterklärung einer Subkultur, die sich sonst gerne fortschrittlich und politisch gibt.
Resignation, EDM, der Backlash (und dessen Backlash)Rewind: die späten Nullerjahre. Die globale Finanzkrise hatte die Weltwirtschaft in Chaos gestürzt und einer ganzen Generation das letzte Gefühl von Sicherheit geraubt. Mark Fisher legte mit Capitalist Realism. Is There No Alternative? die ultimative Diagnose des sich spätestens in dieser Ära verfestigenden Zeitgeists vor. Der Kulturkritiker beschrieb 20 Jahre nach dem Mauerfall und dem Wegbruch des real existierenden Sozialismus als sozio-ökonomische Alternative zum Status quo eine Atmosphäre der politischen Lähmung: Das System des Kapitalismus war dermaßen übermächtig geworden, dass sich schlicht keine andere Weltordnung mehr vorstellen ließ.
Zukunftsperspektiven? Gab es keine. Fluchtangebote aber einige, vor allem in Berlin, wo bereits in den Neunzigern das Strukturchaos und der stete Notstand durchglamifiziert wurden. In logischer Konsequenz easyjettete halb Europa jedes Wochenende nach Berlin, um dort zu raumgreifendem Techno im Berghain oder einem hippiesken Stilblütenmix in der Bar25 den Anblick einer grauen Welt gegen psychoaktive Substanzen und ein paar Tage außerhalb der Zeit einzutauschen. Techno wurde unter dem Banner der ravenden Gesellschaft schon einmal zum Lifestyle gemacht, nun aber wurde er zum individualistischen Sport. Autor:innen wie Airen oder Tobias Rapp beschreiben aus der Gegenwart heraus, wie Eskapismus neu definiert wird - als Triathlon aus Feiern, Ficken, vermeintlicher Sorglosigkeit.
„Die erste Hälfte der Zehnerjahre war geprägt von Distinktionsgesten, mit denen sich die Szenen durch einen härteren Sound und/oder mehr Tiefsinnigkeit von den Stadion-Clowns und Wannabe-Ravern dieser Welt absetzen wollten wie dereinst Minimal von Progressive House und Trance."
Doch wurde diese vermeintlich neue Rave-o-lution schnell von ihren Kindern, besser gesagt den Candy Ravers, gefressen. Zeitgleich nämlich erreichte elektronische Tanzmusik den Overground und wurde zum Allround-Spektakel. Daft Punks Coachella-Auftritt im Jahr 2006 legte den Grundstein für EDM - für David Guetta, Deadmau5 oder Skrillex. In den USA und in Europa tanzte plötzlich auch die Mehrheitsgesellschaft auf den Four-to-the-Floor und selbst die vermeintlichen Hochburgen des Undergrounds wurden dank Berlin Calling für diejenigen attraktiv, die vorher noch ihre Röhrenjeans auf Indie-Partys durchgeschwitzt hatten. Prekäre Bedingungen, Austerität allenthalben - und die Leute gingen ernsthaft feiern.
In die Techno- und House-Szene schlichen sich darüber monochrom-monotone oder melancholische Untertöne ein. Ob nun „Subzero", ein unverhoffter Megahit wie UVBs „Mixtion" und roughe Analog-Sounds auf dem Techno-Floor oder der New Romantic House beziehungsweise das traurige Crooning von Ry X, das von Âme in die House-Clubs übersetzt wurden: Die erste Hälfte der Zehnerjahre war geprägt von Distinktionsgesten, mit denen sich die Szenen durch einen härteren Sound und/oder mehr Tiefsinnigkeit von den Stadion-Clowns und Wannabe-Ravers dieser Welt absetzen wollten wie dereinst Minimal von Progressive House und Trance.
Doch der heilige Ernst hielt nicht lange an. Schon bald folgte der Backlash auf den Backlash in Form von albernem Lo-Fi-House und einer veritablen Meme-Sintflut. Eine ganze Szene begriff nach Jahren der bierernsten Jesusgesten-Bilder auf Facebook, welches Potenzial oder besser gesagt Kapital in Humor und Schrägheit lag. Nicht wenige DJs fingen an, ihre Karrieren auf ihrer Instagram-Performance statt in der Booth aufzubauen. Und weil die ganze Welt sich zunehmend schneller durch die Storys wischte, scheint es im Rückblick nur logisch, dass darüber graduell die Tempi nach oben schnellten.
Trance! Trash-Pop! Gabber!Zeitgleich gewannen selbst vormals belächelte Musikstile wieder an Währung. Trance war zwar irgendwann in den Neunzigern das Genre du jour, wurde aber schnell langfristig in der Abstellkammer entsorgt, Prädikat: objektiv gesehen uncoole Musik von uncoolen Leuten, die ausschließlich uncoole Crowds anzieht. Mit den Trance-Abstraktionen eines Lorenzo Senni oder Installationsprojekten wie Henrike Naumanns und Bastian Hagedorns Museum of Trance formierte sich in den Zehnerjahren zwar ein neues Interesse an Genre und Szene, filterte das aber durch künstlerische Absichten beziehungsweise distanzierte intellektuelle Gesten. Doch erreichte Trance zu Beginn der zweiten Hälfte der Zehnerjahre wieder den Dancefloor. Der Konsenshit des Jahres 2016 war „Mutter" von Konstantin Sibold. Er setzte auf einen dramatischen Ton und genau die großen Gesten, von denen sich ehemals alle abgewandt hatten, und die nun wieder salon- beziehungsweise clubfähig wurden. Die „Rückkehr der Flächen" war plötzlich gekommen.
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