Kristoffer Cornils

Freier Journalist und Redakteur, Berlin

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Gender und Musik: "Es produzieren noch mehr Männer Musik mit anderen Männern" (ZEIT Online)

"Wem gehört die Welt?", fragte Beyoncé vor über zehn Jahren in ihrem Song Run The World (Girls) und setzte die Antwort gleich in Klammern. Zumindest für ihre Welt. Das jüngste Album der Künstlerin ist eines der meistgestreamten des Jahres und steht damit in einer Reihe jüngerer Erfolgsgeschichten prominenter Musikerinnen. Adele, die Newcomerinnen Olivia Rodrigo und Gayle und sogar Kate Bush dominierten in den vergangenen Monaten die Popdebatten und Charts, in Deutschland meldeten unter anderem Domiziana und Nina Chuba Sommerhitambitionen an. Schon die Tatsache, dass den beiden Letztgenannten hierzulande die Poleposition der Charts von einer anderen Frau namens streitig gemacht wurde, weist jedoch darauf hin, dass der schöne Schein trügt.

Popkultur mag als Motor gesellschaftlichen Fortschritts und Katalysator emanzipatorischer Bewegungen gelten. Wenn aber jemand einen gründlichen Blick auf die Verhältnisse jenseits des Rampenlichts wirft, sich hinsetzt und mal ausrechnet, wie die Dinge wirklich stehen, zeigt sich ein anderes Bild. Die MaLisa Stiftung hat genau das getan. "Interpretinnen scheinen auf dem Vormarsch zu sein, doch hinter den Kulissen sieht es anders aus", sagt Anna Groß, Referentin der Stiftung. Sie hat die in Kooperation mit der Verwertungsgesellschaft Gema und dem Verband Music S Women* durchgeführte Studie Gender in Music geleitet, die am 19. September vorgestellt wird und von ZEIT ONLINE bereits eingesehen werden konnte. Die Untersuchung folgt auf eine weitere, die im Vorjahr die Erfahrungswerte von Branchenmitgliedern abbildete. Dabei kam es zu bedrückenden Ergebnissen: Fast jede der befragten Frauen hat in der Musikwirtschaft unterschiedliche Formen der Diskriminierung erlebt, auch dort gibt es einen sogenannten Gender Pay Gap.

Im Gegensatz dazu gaben vermehrt Männer an, keine Ungerechtigkeiten in ihrem Arbeitsumfeld ausmachen zu können. "Die Musikbranche ist ein Buddybusiness, eine männergeprägte Wirtschaft. Wenn Männer unter sich sind, gibt es auch kein Problembewusstsein", erklärt Groß diese Wahrnehmungsdiskrepanz, der Gender in Music nun konkrete Zahlen zur Seite stellt. Die Recherche wertet die Präsenz von Frauen und nicht binären Personen auf den Festivalbühnen dieses Landes, bei den Gema-Anmeldungen und in den Credits von chartplatzierten Songs in Deutschland aus. "Wir hatten die Hoffnung, wir könnten das weit verbreitete Bauchgefühl widerlegen, es gäbe einen Männerüberhang", sagt Groß. "Aber der Überhang ist sogar noch ausgeprägter, als wir angenommen hatten."

Im Vergleich zwischen dem Jahr 2010 und der letzten Saison vor Pandemiebeginn stieg bei den 15 ausgewerteten Festivals zwar der Anteil von Frauen auf der Bühne, doch handelt es sich Groß zufolge um nicht mehr als "kleine Schritte" in Richtung Ausgeglichenheit. Denn im Durchschnitt stieg dieser von nur sieben auf zwölf Prozent. Ähnlich sieht es im Feld der Komponistinnen und Textdichterinnen aus. Rund 80.000 Mitglieder zählt die Gema nach eigenen Angaben, 85 Prozent von ihnen waren laut Gender in Music im Jahr 2019 männlich, an nur sechs Prozent aller bei der Verwertungsgesellschaft angemeldeten Stücke in diesem Jahr waren Frauen beteiligt - obwohl sich die Anzahl der Stücke innerhalb des Jahrzehnts fast verdoppelt hat.

Noch deutlicher sind die Zahlen aus der Auswertung der deutschen Top-100-Singlecharts in den Jahren 2010 und 2019: Waren es 2010 noch 86, sind mittlerweile 91 Prozent der an den Kompositionen beteiligten Personen Männer. Machten im Jahr 2010 von rein weiblichen Teams komponierte Stücke gut drei Prozent aus, sind es nunmehr weniger als ein Prozent. "Es produzieren noch mehr Männer Musik mit anderen Männern", fasst Groß die Situation zusammen. Viele Frauen mögen als Interpretinnen erfolgreich sein. Oft werden ihre Songs jedoch - genauso wie übrigens auch die von ihren männlichen Kollegen - von komplett männlichen Teams in sogenannten Songwriting-Camps geschrieben.

Gender in Music erfasst auch das Geschlecht der Mitglieder von Begleitbands und zeichnet somit ein Bild davon, wer außer den großen Stars Zugang zu kreativer Teilhabe und wirtschaftlicher Partizipation erhält. Groß identifiziert "Männerseilschaften" als ein zentrales Problem bei der Kuration von Konzerten und Festivalprogrammen. Einerseits entstünden viele Deals in Männerrunden an der Theke nach dem Konzert, bei denen Frauen maximal als "Flirtobjekte" erwünscht seien. Andererseits gingen vor allem größere und kommerziell orientierte Festivals auf Nummer sicher und buchten immer wieder gemeinhin männlich besetzte Bands, die schon in den Vorjahren ein großes Publikum angezogen hätten.

Ob es nicht vielleicht auch am Publikum liegt, das lieber Jungsbands auf der Bühne beim Schwitzen zusieht? "Wenn ich keine andere Musik als die von Männern kenne, wie kann ich überhaupt merken, dass es noch mehr Vielfalt geben könnte?", fragt Groß zurück. "Gerade deshalb könnten Festivals jenseits ihrer drei Headliner ganz andere Entscheidungen treffen." Und was ist mit dem gerne vorgebrachten Einwand, dass vielleicht einfacher weniger Frauen Interesse an einer Karriere in der Musik haben? Dass die schlechten Quoten schlicht auf mangelnde Ambitionen zurückzuführen seien? Groß widerspricht entschieden. "Das Kernproblem ist nicht mangelndes Interesse, sondern dass Frauen weniger Auftrittsmöglichkeiten bekommen." Insbesondere die Unterstützung von aufstrebenden Künstlerinnen am Anfang ihrer Karriere sei deshalb wichtig.

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