Carlos Osorio ist erst zwölf Jahre alt, wiegt aber schon 103 Kilogramm - rund 60 mehr, als er in seinem Alter auf den Rippen haben dürfte. Wenn man seinen Großvater Fernando fragt, wie es dazu kam, dann sagt er nur: "Zuckerbrausen, Instantsuppen und Chips." Wie lange ernährt er sich schon so? "Muss wohl schon eine ganze Zeit so sein", sagt der Opa, der Carlos an diesem Morgen in die Dicken-Sprechstunde bei Salvador Villalplando im Kinderkrankenhaus Federico Gómez in Mexiko-Stadt begleitet.
Kinder wie Carlos geben sich bei Villalpando die Klinke in die Hand. Der Gastroenterologe behandelt Kleinkinder mit krankhafter Fettsucht. Achtjährige mit Nierenfunktionsstörungen und Zehnjährige an der Grenze zur Zuckerkrankheit. "Wir kümmern uns hier um 400 Kinder im Jahr, mehr schaffen wir nicht. Aber der Bedarf steigt stetig", sagt Villalpando.
In Mexiko sind Fettsucht und Folgeerkrankungen wie Diabetes ein riesiges Problem - nicht nur bei Kindern. Ganz Mexiko ist viel zu dick. Nirgendwo in der Welt ist die Zahl der Übergewichtigen und Fettleibigen in den vergangenen zwei Jahrzehnten so stark gewachsen: Auf knapp 70 Prozent an der Gesamtbevölkerung seit 1980. Nach einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat Mexiko vergangenes Jahr die USA als das Land mit den meisten Übergewichtigen abgelöst. Fettsucht sei keine Volkskrankheit mehr, sagt Mediziner Villalpando. "Es ist eine Epidemie."
Cola statt Wasser
Mexiko ist das Land mit dem weltweit größten Konsum von Cola oder anderen zuckerhaltigen Erfrischungsgetränken. 163 Liter pro Jahr trinkt jeder Mexikaner im Schnitt, das ist fast ein halber Liter am Tag. Chips und Süßigkeiten - die Mexikaner lieben es wie niemand sonst. Dazu kohlenhydratreiche Kost wie Maisfladen, Brot, Reis. Und Fleisch. Das alles jeden Tag, zu jeder Uhrzeit und zu viel davon, diagnostizieren Experten. Viele Mexikaner ernähren sich ausschließlich von "Vitamin T" - Tacos, Tortillas und Tortas (Sandwichs). Gleichzeitig hat der Konsum von Bohnen, einem der gesündesten und traditionellen mexikanischen Nahrungsmittel, in den vergangenen 20 Jahren um die Hälfte abgenommen.
Dieser Speiseplan hat dazu geführt, dass Mexiko das Land mit der höchsten Diabetes-Rate der Welt ist. 80.000 Tote und 75.000 Amputationen, eine der Folgen der Erkrankung, verzeichneten die Gesundheitsbehörden vergangenes Jahr und riefen damit die Weltgesundheitsorganisation auf den Plan. Die WHO forderte Präsident Enrique Peña Nieto auf, umgehend zu handeln.
Also beschloss die Regierung vor gut einem Jahr ein Maßnahmenpaket, das sich auf den ersten Blick fortschrittlich liest: ein Werbeverbot in TV-Kinderprogrammen, eine Gesundheitsabgabe von einem Peso (0,06 Euro) pro Liter auf zuckerhaltige Brausegetränke. Zudem wird auf Süßes und Salziges eine Acht-Prozent-Sondersteuer erhoben, wenn es mehr als 275 Kalorien pro 100 Gramm enthält.
Werbeverbot und Kaloriensteuer
Beide Abgaben könnten nach Schätzungen etwa 24 Milliarden Pesos (rund 1,4 Milliarden Euro) in die Staatskasse spülen. "Das ist leider nicht genug", sagt Alejandro Calvillo, Leiter der Verbraucherschutzorganisation "El poder del comsumidor". "Schließlich belaufen sich die direkten und indirekten Kosten von Übergewicht und Diabetes jedes Jahr auf 80 Milliarden Peso."
Calvillo sieht aber noch mehr Schwachstellen: "Vor allem das Werbeverbot ist ausgesprochen lax", kritisiert er. Nur werktags zwischen 14:30 Uhr und 19:30 Uhr und an Wochenenden zwischen 7:30 Uhr bis 19:30 Uhr darf nicht für Ungesundes und Kalorien- und Zuckerbomben geworben werden. Ausnahmen sind aber Fußballspiele, Telenovelas und Spielfilme - Programme, die Kinder viel sehen und über welche die Unternehmen das Verbot umgehen.
Skandalös ist laut Calvillo auch, dass das Regierungsprogramm eine wörtliche Übernahme des sogenannten EU-Pledge sei, einer Selbstverpflichtung zur Werberegulierung großer Nahrungsmittelunternehmen - und damit von den Unternehmen selbst formuliert. Daran haben sich etwa Coca-Cola, Pepsi, Danone, Nestlé und Kellog's beteiligt. "Mexiko ist das einzige Land der Welt, das Unternehmenskriterien genommen und daraus eine offizielle Regelung gemacht hat, das ist der Traum jedes Herstellers", sagt Calvillo.
Einer der Effekte sei, dass in Mexiko Produkte durch das Werbeverbot fallen, die von der WHO wegen ihres hohen Zuckergehalts als gesundheitsschädlich eingestuft werden. Immerhin: Die Brauseabfüller in Mexiko haben beklagt, ihre Verkäufe seien um vier Prozent zurückgegangen. Dafür stieg der Absatz von Flaschenwasser um rund 13 Prozent. Umfassende Erhebungen über die Wirksamkeit der neuen Maßnahmen geben es aber bisher nicht, sagt Calvillo.
Auch Carlos Osorio, das 103-Kilo-Kind, muss jetzt umdenken. Tee statt Cola, Obst statt Chips und eine richtige Mahlzeit statt Instantsuppen, verordnet Villalpando. Schon beim Gedanken daran verzieht der Junge das Gesicht.
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