Bald zwei Monate sind die 43 Studenten aus Ayotzinapa nun verschwunden, seit sieben Wochen laufen die Ermittlungen. Und was gibt es bisher? Videogeständnisse von drei angeblichen Mördern, kaum älter als ihre mutmaßlichen Opfer. Und bis zu Asche verbrannte Leichenteile auf einer Müllkippe nahe Iguala. Dafür, dass angeblich die gesamte mexikanische Ermittlungsmaschinerie nach den Studenten sucht, ist das Ergebnis bisher ausgesprochen mager. Das allein wäre wohl schon ausreichend, für großen Zorn nicht nur bei den Angehörigen der Studenten zu sorgen. Doch es geht schon längst um sehr viel mehr als bloße Unfähigkeit von Justiz und Staat.
Das systematische Versagen der Staatsorgane manifestierte sich in drei Worten: "Ya me cansé." Das sagte Murillo Karam, der oberste Ermittler des Landes auf einer Pressekonferenz. Ganz Mexiko konnte Zeuge werden, wie er seufzte: "Ich bin eure Fragen leid."
Die Antwort auf Karam ist zum Slogan einer Bewegung geworden, die das ganze Land erfasst hat: "Ya me cansé del miedo", erwidern die Mexikaner - "wir sind die Angst leid". Voller Zorn fordern sie Gerechtigkeit für die Studenten, und Rechtsstaatlichkeit für Mexiko. Regelmäßig werden Einrichtungen der Regierung in Guerrero angegriffen und Autos in Brand gesetzt. Menschen gehen in den Städten gegen Korruption auf die Straße, in den sozialen Netzwerken empören sie sich die Menschen. Und in all dem, was man als die bislang schwerste Staatskrise in der Amtszeit von Präsident Enrique Peña Nieto bezeichnen muss, fliegt dieser zum Apec- und G20-Gipfel nach China und Australien, um Mexiko als aufstrebende Wirtschaftsmacht zu präsentieren.
Bürgermeistergattin führte Finanzen der Kriminellen
Das mutmaßliche Verbrechen an den jungen Männern und seine Umstände belegen, wie allein die Regierenden in vielen Regionen Mexikos ihre Bürger lassen. In manchen Landstrichen sind die Menschen regelrechte Waisen des Staates. Die örtlichen Machthaber arbeiten dort fast nie fürs Volk, dafür umso häufiger Hand in Hand mit dem organisierten Verbrechen. So ist es fast überall in Guerrero, dem ärmsten und gewalttätigsten Bundesstaat. Peña Nieto hat lange versucht, den Schrecken in Iguala als lokales Phänomen darzustellen. Doch es zeigt sich, dass Situationen wie in Guerrero ein strukturelles Problem sind. Experten schätzen, dass in bis zu drei Vierteln aller 2440 Gemeinden in Mexiko Politiker, Polizei und organisierte Kriminalität in irgendeiner Weise eine Allianz eingegangen sind.
Zu dieser Situation haben vor allem zwei Faktoren geführt: einerseits die Bestechlichkeit mexikanischer Institutionen auf allen Ebenen - und andererseits das organisierte Verbrechen, das sich im Laufe der Jahre an die Verfolgung durch den Staat angepasst hat. Gruppen wie die "Guerreros Unidos" sind kleine, lokal agierende und äußerst brutale Banden, die nicht mehr das große Rauschgiftgeschäft führen, sondern vor allem Terror vor Ort verbreiten. Entführungen, Überfälle, Auftragsmorde und Schutzgelderpressung sind ihre Verbrechen. Vom Supermarkt über die Apotheke bis hin zum Zeitungsverkäufer: Alle müssen zahlen. In Iguala wurden die Gangster gleich aus dem Rathaus heraus orchestriert. Maria Pineda war nicht nur Bürgermeistergattin, sondern auch Finanzchefin der "Guerreros Unidos".
Rund zehn Gruppen wie diese gibt es laut dem unabhängigen Kriminalitätsexperten Alejandro Hope in Guerrero. "Los Rojos", "La Familia" und die "Tempelritter" sind nur die bekanntesten. "Sie alle sind Ergebnis der Fragmentierung der Großkartelle durch die staatliche Verfolgung", sagt Hope. Diese Banden seien lokal verwurzelt, aber ohne unternehmerische Vision. Und den Drogenhandel betreiben sie nur über Zwischenhändler.
"Sie machen sich über uns lustig"
Auf der Suche nach den Leichen der Studenten werden in Iguala immer mehr Massengräber gefunden, und kaum jemand fragt sich, wer diese Opfer sind. In der seit acht Jahren tobenden Schlacht um Mexiko mit fast 100.000 Toten und Vermissten scheint so etwas nur noch eine Randnotiz zu sein.
So wächst mit jedem Tag die Wut der Angehörigen, die in der "Escuela Normal Rural" in Ayotzinapa ausharren wollen, bis die 43 Jungen lebend zurückkommen - oder bis die von ihnen beauftragten argentinischen Rechtsmediziner ihren Tod bestätigen. Die Südamerikaner haben durch die Suche nach Opfern der Militärdiktatur jahrzehntelange Erfahrung darin, komplizierte DNA-Nachweise zu führen und Identitäten aus winzigen Knochen- und Geweberesten zu rekonstruieren. Am Montag teilten sie mit, dass die von ihnen analysierten Leichen aus einem Grab in Iguala nicht die der 43 Vermissten sind. Die sterblichen Überreste von der Müllkippe in Cocula werden jetzt auf Wunsch der mexikanischen Justiz vom international renommierten Forensiker Walther Parson am Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck untersucht.
Das Ergebnis seiner Untersuchung wird den Vorwurf kaum entkräften können, den immer mehr Mexikaner aussprechen: dass der Staatsapparat Täter sei. Und wer Täter ist, kann nicht neutral ermitteln. So bestreiten die Eltern, dass ihre Kinder in dem kleinen Ort Cocula nahe Iguala ermordet und verbrannt wurden, so wie es die Ermittler in ihren Mitteilungen annehmen. "Sie machen sich über uns lustig", zürnt Margarito Ramírez, dessen Sohn Carlos unter den Vermissten ist. "Sie machen das alles, um sich des Problems zu entledigen."
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