Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Studenten in Uruguay: Das große Los gezogen - SPIEGEL ONLINE - Leben und Lernen

Wer träumt nicht davon: ein dreiviertel Jahr um die Welt reisen - und das praktisch kostenlos. Gibt es nicht? Doch: in einem kleinen Land am Südzipfel Südamerikas, dort wo es mehr Kühe als Menschen gibt und seit neustem Marihuana in der Apotheke. Viel länger als Dope auf Rezept gibt es in Uruguay aber die "Arquitectura Rifa". Eine Tombola, mit der sich Architekturstudenten der staatlichen "Universidad de la República" eine Studienreise um die Welt finanzieren können.

Vorher müssen die Anwärter innerhalb von drei Jahren rund 200 Lose für eine Lotterie verkaufen - die sind mit umgerechnet 130 Euro pro Stück allerdings nicht ganz billig.

Lucía Borche stieg im vergangenen Jahr ins Flugzeug. Wenn man sie fragt, wo sie überall war, lacht sie. "Ich krieg' das schon nicht mehr zusammen", sagt sie dann. "Ich weiß nur noch, dass ich am 13. Mai 2016 losgeflogen und am 14. Dezember wieder zu Hause angekommen bin. Dazwischen lagen drei Kontinente, mehr als 20 Länder, noch mehr Städte, kalte Nächte im Zelt, harte Nächte im Auto. Aber Eindrücke, die du nie wieder vergisst", sagt die 26-Jährige. "Beim Anblick des Parthenon-Tempels auf der Akropolis in Athen sind mir die Tränen gekommen. Für mich steht die Wiege der Architektur in Griechenland", konstatiert Lucía.

Damit hat die Reise bei Lucía genau ihren Zweck erfüllt: Die Studienreisenden sollen mit einem erweiterten Horizont zurückkehren. Sie sollen sich über Ziele für ihren späteren Job klar werden und Inspirationen mitbringen. Manche angehenden Architekten reisen dafür in den gesponserten neun Monaten in 40 Länder.

Tradition seit 1944

Die Reisetombola haben sich Architekturstudenten in Uruguay schon vor mehr als 70 Jahren ausgedacht. 1944 gingen die ersten von ihnen auf Reisen, damals noch per Schiff. Heute starten jedes Jahr im Mai und Juni rund 300 Studenten ihren Trip.

Meist ist New York die erste Station: "Für mich und die vier Freunde, mit denen ich gemeinsam gereist bin, fühlte sich New York wie eine Ohrfeige an", erinnert sich Lucía. So groß, so bunt, so laut, so viel zu sehen. "Bei uns in Uruguay ist ja alles so still und klein."

"In Japan hat mich die Liebenswürdigkeit, die Strukturiertheit und die Klarheit der Menschen beeindruckt", sagt sie. "Das spiegelt sich auch in der japanischen Architektur wider. Das ist so anders als bei uns in Lateinamerika."

Lucía ist es wichtig, dass die Architektentombola nicht zur Finanzierung von Urlaub dient: "Wer Party und Strand will, ist hier falsch." Die Weltreisen sind gespickt mit Vorträgen, Besichtigungen, Stadtführungen. Mehrere Dozenten reisen mit und organisieren Treffen mit Architekten.

Waschmaschine und Auto als Gewinne

Aber vor Beginn der Tour steht halt doch ein bisschen Arbeit als Losverkäufer - verteilt auf drei Jahre. Im ersten Jahr müssen die Studenten 25 "Rifas" verkaufen, der Erlös deckt Verwaltungskosten, Visa und ähnliches ab.

Im zweiten Jahr sind es dann 60 und im dritten mindestens 120 Lose. Insgesamt also mindestens 205 Lose - je mehr, desto größer das Reisebudget. Wer nicht genügend Lose verkauft, muss den entsprechenden Teil der Kosten selber tragen. Lucía Borche hat nur 179 Stück unters Volk gebracht: "Das war hartes Brot. Zuerst schwatzt du deinen Freunden und den Freunden deiner Freunde ein Los auf, dann dem Nachbarn, der Tante zweiten Grades und am Ende verteilst du Flyer und stellst dich auf die Straße und quatscht die Leute an."

Jeder Uruguayer kennt die Architektentombola

Die Lose sind zwar teuer, aber die Gewinne üppig: Waschmaschinen, Autos und sogar ein Haus, das Studenten der Architekturfakultät entworfen haben.

Beim Verkauf hilft den Studenten, dass die Architektentombola seit Jahrzehnten etabliert und jedem Uruguayer bekannt ist. "Wer kann, der kauft. Zum einen wegen der Preise, zum anderen weil den Menschen auch der gute Zweck einer Bildungsreise gefällt", sagt Lucía.

Lucía Borche hat nun schon viel von der Welt gesehen. USA, Japan, China, Indien, Türkei, Russland und schließlich Europa von oben bis unten. "Mir hat das Taj Mahal in Indien zwar gut gefallen, aber am meisten hat mich die schottische Hauptstadt Edinburgh mit ihren unterirdischen Gewölben beeindruckt."

Lucía will nächstes Jahr ihren Abschluss machen. "Die Weltreise hat mich der Architektur noch mal nähergebracht und mir geholfen, sie besser zu verstehen", sagt die 26-Jährige. Sobald sie einen Job hat, will die angehende Architektin den nachrückenden Jahrgängen Lose abkaufen: "Das ist für uns alle eine moralische Verpflichtung."

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