Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Chilenischer Nobelpreisträger: Pablo Neruda "höchstwahrscheinlich" doch ermordet - SPIEGEL ONLINE

Der Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda ist nach neuesten offiziellen Erkenntnissen 1973 möglicherweise doch ermordet worden und nicht an seiner Krebserkrankung gestorben. Das gehe aus einem Bericht des chilenischen Innenministeriums hervor, berichtet die spanische Tageszeitung "El País".

Demnach sei Neruda "höchstwahrscheinlich" nicht an den Folgen eines Prostatakarzinoms gestorben, sondern durch "Einwirkung Dritter" getötet worden, heißt es in dem Schreiben vom 25. März an Richter Mario Carroza. Der hatte schon vor mehr als zwei Jahren die Exhumierung des Leichnams von Neruda angeordnet, um die Umstände von dessen Tod aufzuklären. Der Bericht des Ministeriums stützt sich auf neue Ermittlungen und Untersuchungen. Allerdings sind diese noch nicht abgeschlossen.

Theorien, die sich widersprechen

Neruda, 1971 mit dem Literaturnobelpreis geehrt, war am 23. September 1973 gegen 22.30 Uhr in der Klinik Santa María in Chiles Hauptstadt Santiago gestorben. Zwölf Tage zuvor hatte General Augusto Pinochet die Linksregierung "Unidad Popular" von Präsident Salvador Allende gestürzt und eine Diktatur errichtet, in der er Sympathisanten der demokratischen Regierung verfolgen und ermorden ließ. Der Kommunist Neruda war nicht nur ein enger Freund Allendes, sondern auch der bekannteste Unterstützer seiner Regierung.

Neruda wollte wenige Tage später nach Mexiko reisen, um von dort aus zumindest den Widerstand gegen die Militärherrschaft zu organisieren. Aber laut dem Bericht des Ministeriums wurde dem Dichter am Nachmittag des 23. September möglicherweise eine Substanz gespritzt, die wenige Stunden später zu seinem Tod führte.

Dies widerspricht der bisherigen Theorie, wonach Neruda an seiner Erkrankung gestorben ist. Der spanische Historiker Mario Amorós greift die Mordthese in seiner über 600 Seiten langen Neruda-Biografie "Neruda. El princípe de los poetas" ("Neruda. Der Prinz der Poeten") auf, die diesen Monat veröffentlicht wird.

Vor zwei Jahren noch war eine internationale Gruppe von Gerichtsmedizinern zu der Auffassung gelangt, Neruda sei nicht ermordet worden, sondern seinem fortgeschrittenen Leiden erlegen. Nach der Exhumierung genommene Gewebeproben hätten keine Hinweise auf eine Vergiftung ergeben, befand damals eine Gruppe von 15 Forensikern, Biochemikern und Biologen nach monatelanger Untersuchung. Man fand lediglich "Reste des von Krebs befallenen Gewebes (...) und Hinweise auf Medikamente, die damals bei Prostatakrebs verabreicht wurden".

"Neruda hatte Krebs, aber er lag sicher nicht im Sterben"

Der elf Seiten umfassende Bericht des Innenministeriums stützt sich auf neue Untersuchungen und die Auswertung der Krankenakte des Hospitals. Zudem wurden in Nerudas Organismus Nachweise von Staphylococcus aureus gefunden, ein Bakterium, das unter gewissen Umständen hochgiftig sein und den Tod bei Menschen herbeiführen könne, schreibt "El País". Und dieses Bakterium gehörte gewöhnlich nicht zu einer Krebstherapie. Eine Expertengruppe untersucht derzeit, ob dieses Bakterium von außen zugeführt wurde und so möglicherweise Nerudas Tod verursacht habe.

"Wir sind immer davon ausgegangen, dass in den Tagen in der Klinik etwas Unnormales passiert sein muss", zitiert "El País" Richter Carroza. "Neruda hatte Krebs, aber er lag sicher nicht im Sterben. Und dann stirbt er plötzlich innerhalb von sechs Stunden." Carroza will noch komplizierte biochemische Untersuchungen abwarten, bevor er ein endgültiges Urteil abgibt.

Die Zweifel an der Theorie des natürlichen Todes von Neruda decken sich mit Aussagen seines ehemaligen Chauffeurs und Freundes Manuel Araya. Der hatte vor zwei Jahren für die Exhumierung Nerudas gesorgt, weil er ausgesagt hatte, dass Neruda ermordet wurde.

Stärkstes Indiz: Neruda hat laut Araya an jenem 23. September in einem Telefongespräch mit seiner Frau Matilde Urrutia davon berichtet, dass ein Arzt ihm im Schlaf eine Spritze gegeben habe. "Er bat mich, umgehend nach Santiago zu kommen. Als wir ankamen, war er fiebernd, rot und aufgedunsen," erinnerte sich Araya damals. Kurze Zeit später starb Neruda.

Dass die chilenische Militärdiktatur während ihrer Gewaltherrschaft zwischen 1973 und 1990 prominente Gegner gnadenlos und sogar im Ausland ermorden ließ, ist seit Jahrzehnten bekannt: 1974 etwa wurde Carlos Prats in Buenos Aires mit einer Autobombe ermordet; Prats war Innenminister und Vize von Präsident Allende. Das gleiche Schicksal ereilte zwei Jahre später in Washington den Ex-Außenminister Allendes, Orlando Letelier. Auch ihn tötete eine Autobombe. Auch hier waren die Mörder Agenten des Pinochet-Regimes.

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