Noch hängt die I7jährige Sabine an der Leine. Einen breiten Lederriemen hat sie um die Hüfte gezogen. daran ein Sicherheitsseil festgeschnallt, dessen anderes Ende in Lehrer Manfred Bergners Händen liegt. Und der paßt auf, wenn Sabine mit ihren Partnern die Dreierpyramide einstudiert, gibt Tips für die richtigen Griffe, muß gelegentlich schon einmal das Seil gehörig festhalten.Ein neuer TrickSabine studiert mit Marko und Alex gerade einen neuen ,Trick, ein. Doch hat die Übung nichts mit Taschenspielerfertigkeiten zu tun. Die drei Jugendlichen besuchen den Ausbildungsgang "Staatlich geprüfte Artisten" in Deutschlands einziger Artistenschule, gelegen in der Berliner Friedrichstraße."Andere Berufe sind mir viel zu langweilig", sagt die aus Schwedt an der Oder stammende Sabine. Seit dem fünften Lebensjahr hat sie eifrig geturnt -- "einige Zeit lang sogar ein paar Stunden jeden Tag". Auch der t6jahrige Marko ist sportlich vorbelastet: Der Dresdner ist Deutscher Meister im Trampolinspringen. Erst nach der Realschule kam der lBjahrige Alex aus Frankfurt am Main.Für Gerd Krija, den künstlerischen Leiter der Schule, ist die "allgemeine physische Entwicklung" der Bewerber wichtig. "Wer den Ball auf einem Finger balancieren kann", sagt Krija, "aber körperlicher Belastung aus dem Weg gegangen ist, hat wenig Chancen. Wer jongliere, sei noch lange kein Artist.Vier Jahre dauert die Ausbildung. Akrobatik, Trapez, Jonglieren, Drahtseil und Äquilibristik, also Gewichtsübungen und Balanceakte, sowie Clownerie werden im ersten Jahr gelehrt. Außerdem erhalten die Schüler Ballettunterricht. Im zweiten Jahr wird ein Schwerpunkt gewahlt, später dann die eigentliche Spezialisierung vorgenommen, in dem dann zum Abschluß eine manegenreife Darbietung vorgeführt werden muß.Unter den rund SO Bewerbern suchen die Artistik-Lehrer zehn aus. Insgesamt 40 Schuler sind derzeit in allen vier Klassen eingeschrieben -- zu DDR-Zeiten meldeten sich in jedem Jahrgang etwa 250 bis 300 Jugendliche. Zusammen mit der Staatlichen Ballettschule wurde die 1959 gegründete Artistenschule nach der deutschen Vereinigung vom Berliner Schulsenat zunächst in einem Modellprojekt übernommen.Schule und TrainingÜblicherweise bewerben sich die Interessenten, wenn sie in der achten Klasse sind; die neunte und zehnte Klasse der Realschule absolvieren sie dann in der Berliner Artistenschule. Zum normalen Schulprogramm kommen jede Woche rund 20 Stunden Artisten-Training hinzu.Wer wie Alex die zweijährige Variante wählt, durchläuft eigentlich eine normale Berufsfachschule: In der Theorie werden die üblichen Schulfächer unterrichtet, dazu Anatomie und Geschichte der Artistik, in der Praxis die verschiedenen Genres der künftigen Zirkuskünstier.Die Manege ist das große Ziel. "Rund 200 Zirkusse gibt es in Deutschland, wovon allerdings nur zehn zu empfehlen sind", so Gerd Krijas Einschätzung. Oft kommt es vor, daß die Artisten am Saisonende nicht das vereinbarte Honorar erhalten. Festanstellungen gibt es nicht.Prüfung öffentlichWer nach vollendeter Ausbildung mit lBoder l9jahren sein erstes Geld verdienen will, muß eine "Offerte" schreiben, drei Fotos schicken, möglichst noch ein Video beilegen.Schon wahrend der Ausbildung sollen sich die Artisten-Schüler ans Rampenlicht gewöhnen: ,Alle Schulprüfungen sind offentlich, finden jedes halbe Jahr statt und sind eine gute Gelegenheit, Verwandte und Freunde einzuladen.,, Meine Eltern waren ganz begeistert", erinnert sich Sabine an die ersten Vorführungen. Und Markos kleiner Bruder spielt auch schon mit dem Gedanken. sich an der Schule zu bewerben.Schule fur Artistik, Friedrichstra(3e 112 A' 10117 Berlin, Telefon: 282 3803.
Klaus Martin Höfer
Hörfunkjournalist, Zeitschriftenredakteur, Fotoreporter, Hochschuldozent, Autor
Text