Mit einem Roadmovie durch Italien schafft Pepe Danquart eine Hommage an den Gesellschaftskritiker und Künstler Pier Paolo Pasolini – und zeichnet ein sozialkritisches Porträt Italiens.
Der Sehnsuchtsort ist keiner mehr. Dicht an dicht reihen sich die Sonnenschirme, Liegen und Menschen in bunter Badekleidung am italienischen Strand Lago di Jesolo. Das Meer rauscht, der Strand muss regelmäßig aufgeschüttet werden, damit überhaupt noch etwas da ist. Es sind die Kulissen eines deutschen Urlaubstraums.
Mit diesen Bildern leitet Filmemacher und Oscar-Preisträger Pepe Danquart seinen Film „Vor mir der Süden“ ein: Es geht um den Massenkonsum und seine Auswirkungen. Jetzt hat der 66-Jährige im Kino am Raschplatz seinen Film vorgestellt, bundesweit startet die Doku am 1. Juli in den Kinos.
Auf den Spuren von Pasolini
Die Grundlage für den Film ist eine Reise, die Pier Paolo Pasolini 1959 unternahm. Der Künstler und Gesellschaftskritiker fuhr mit einem Fiat 500 an der italienischen Küste vom ligurischen Badeort Ventimiglia bis nach Triest an der Adria. Im Reisetagebuch „La lunga strada di sabbia“ (deutsch: „Die lange Straße aus Sand“) hielt er seine Beobachtungen über das Land zwischen Industrialisierung, Landflucht und beginnendem Massentourismus fest.
„Vor mir der Süden“ zeichnet diese Reise knapp 60 Jahre später nach. Dafür fuhr Pepe Danquart im Spätsommer 2018 mit einem sechsköpfigen Team rund neun Wochen durch Italien – stilecht mit einem Fiat 500. Herausgekommen ist ein Roadmovie, das sein Genre gleichermaßen karikiert, indem es statt romantischer Sehnsuchtsbilder die sozialen Folgen des Konsumismus zeigt.
Was Pasolini bereits Ende der Fünfziger in seinen Anfängen spürte, ist heute teilweise Wirklichkeit geworden. Die Landflucht aus dem Süden Italiens in den Norden hat Geisterdörfer zurückgelassen. Häuser dort werden teils für einen Euro verkauft. Und während der Süden immer karger wird, verdrängt der Massentourismus im Norden die Menschen. Auf nur 50.000 ist die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner Venedigs mittlerweile gesunken – vor 60 Jahren waren es noch mehr als 160.000. Die meisten Touristinnen und Touristen sind Deutsche.
„Die Vereinheitlichung, die dem Faschismus nicht gelang, gelingt der Macht der Konsumgesellschaft auf perfekte Weise“, sagt Pasolini in einer alten Filmaufnahme in „Vor mir der Süden“.
„Das reicht nur zum Sterben“
Pepe Danquart visualisiert das in eindringlichen Porträts Einheimischer. Da sind die Fischer in Capri, die in den überfischten Meeren längst nicht mehr genug fangen. Andere Fischarten haben sich bereits kühlere Gegenden gesucht, weil das Wasser immer wärmer wird. Die Fischer rechnen mit einer Rente von 400 bis 500 Euro. „Zum Leben reicht das nicht. Das reicht nur zum Sterben“, sagt einer und starrt auf sein Netz.
Im kalabrischen Praia hat das letzte Krankenhaus vor Jahren zugemacht. Im Sommer werden aus den 7000 Einwohnerinnen und Einwohnern 70.000 – dank der Urlauberinnen und Urlauber. „Hier gibt es nichts, nur Badeanstalten“, sagt ein Mann.
Auf Sizilien sitzt ein afrikanischer Flüchtling resigniert hinter seiner Nähmaschine und sagt: „Europa existiert nur im Kopf“. Bis nach Deutschland oder Frankreich wollte er einst, heute weiß er, dass seine Träume dort für ihn niemals bezahlbar sein werden.
Ein Film, der bild- wie sprachgewaltig ist. Auch weil Danquart sich immer wieder Zeit für minutenlange Szeneaufnahmen nimmt. Da fahren Mopeds durch baufällige Häuserschluchten in Neapel, Kinder demolieren ihr Spielzeug auf dreckigen Straßen voller Müll. Meeresrauschen geht in Verkehrslärm über, die Autotür des Fiats klappert auf einer der unzähligen Küstenstraßen. Dazu raunt Ulrich Tukur die poetischen Beobachtungen Pasolinis als Voiceover. „Ich hab’s fast gerochen“, sagt danach ein Zuschauer im Kino am Raschplatz. „Ich war immer wieder zu Tränen gerührt.“
„Vor mir der Süden“ zeigt ein Italien fernab vom deutschen Urlaubstraum, das von Armut, Arbeitslosigkeit, Migration und Konsumismus geprägt ist. Eine Art Blaupause für das, was Deutschland bevorstehen könnte? Es ist auch ein Film über Europa. „Denn das, was in Italien bereits passiert, ist unsere Zukunft“, sagt Danquart. „Das sind die Fragen, mit denen auch wir längst konfrontiert sind.“
„Vor mir der Süden“ läuft täglich um 18.15 Uhr im Kino am Raschplatz.
Von Kira von der Brelie
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