Es ist nicht so einfach, Tokio Hotel gut zu finden. „Ich bin eigentlich ja nur ironisch hier", sagt eine Mittzwanzigerin und schiebt sich schnell durch den Eingang im Capitol. „Na ja. So halb ironisch zumindest." Ein bisschen peinlich scheint es manchen schon zu sein, dass sie heute beim Konzert sind.
Dabei war Tokio Hotel 2005 der Hype des Jahres: kreischende Teenies, ohnmächtige Teenies, verliebte Teenies - und „Hummeltitten" überall (Tokio-Hotel-Slang für „Gänsehaut"). Die Auftritte der Band um die Kaulitz-Brüder Tom und Bill sorgten bei der Security regelmäßig für Dauerstress. 2007 machen Bill, Tom, Gustav und Georg die Tui-Arena voll. Als die Band international Konzerte spielt, wollen Franzosen und Israelis plötzlich Deutsch lernen.
Fast 15 Jahre später sprechen Tokio Hotel selbst fast kein Deutsch mehr. Weder in den Texten noch auf der Bühne - schließlich wohnen die Brüder seit neun Jahren in Los Angeles.
Die Stimmung ist erstaunlich ruhig im Capitol. Keine „Bill, ich will ein Kind von dir"-Plakate, keine Ohnmachtsanfälle, bevor es losgeht. Sind die alle erwachsen geworden? Aber spätestens als Bill mit Lederschuhen, hautenger Hose mit Schnürung im Schritt und Glitzerhelm auf die zweistöckige Bühne tritt, vergessen die 1100 Zuschauer ihre Contenance und kreischen los.
Aber da wummert kein Deutsch-Rock mehr aus den Lautsprechern, sondern Disco-Pop: Bills eher dünne Stimme ist so hochgepitcht, als hätte die Band gerade erst voller Begeisterung Autotune entdeckt. Dazu bereiten teils sphärische Synthies, donnernde Bässe und gezupfte Gitarrenriffs tanzbar-wattige Klangteppiche. Das klingt oft ähnlich und immer beliebig.
Aber es scheint ohnehin nicht um den Inhalt, sondern um die Form zu gehen - und wenn die glitzert, umso besser! Jede Bewegung wirkt inszeniert: Gitarrist Tom kann kaum einmal die Saiten streichen, ohne seinen Oberkörper dramatisch zurückzuwerfen.
Bill wechselt dreimal sein Outfit. Wenn er singt, überartikuliert er jedes noch so kleine Gefühl: Greift sich ans Herz, wenn's ruhig wird. In den Schritt, wenn er etwa im Lied „Love Who Loves You Back" mantraartig fordert „Turn me on". Jede Geste fordert: Seht. mich. an. Auf dass auch die hintersten Reihen verstehen, wie echt und intensiv die Gefühle der beiden doch wirken sollen.
Ganz nah soll man ihnen kommen können, ganz authentisch soll es sein, intim. Das zeigt auch die Live-Übertragung von Bills nacktem Oberkörper, als er sich gerade hinter der Bühne ein neues Outfit anzieht. „Wir haben ja auch mal in Hannover gewohnt", erzählt er. „In Langenhagen oder wie das heißt."
Ein Höhepunkt der Selbstvermarktung sind die Ticket-Updates: Beim Lied „Heilig" kommen plötzlich sechs Zuschauerinnen auf die Bühne. Die haben auf den Standard-Ticketpreis noch knapp 1000 Euro draufgezahlt, um mit der Band auf der Bühne stehen zu dürfen.
Und Tokio Hotel hat eine ganze Liste für die Wünsche der Fans: Für 3000 Euro kann man sogar in dem gleichen Hotel übernachten wie die Band. Wer nicht ganz so viel bezahlen will, kann aber auch für 200 Euro das „Pre Hang"- oder „Post Chill"-Upgrade buchen. Frage-und-Antwort-Runde inklusive. Wer zahlt, darf auch fragen. Nur Fotografen wollte die Band bei diesem Konzert lieber doch nicht dabei haben - deswegen gibt es an dieser Stelle nur Archivbilder. Ganz unironisch.
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Von Kira von der Brelie