„Erwin Kannes – Trost der Frauen (Letterland)“ hat am Sonntag im Theater für Niedersachsen Premiere gefeiert.
Hildesheim. Das Paradies hat einen neuen Namen: Im Letterland liebt jeder seinen Nachbarn, es gibt immer einen Parkplatz und krank wird hier keiner - die perfekte Plastik-Utopie. In dieser spielt die Musicalkomödie „Erwin Kannes - Trost der Frauen (Letterland)" von Peter Lund (Text) und Thomas Zaufke (Musik) in der Inszenierung von Werner Bauer im Theater für Niedersachsen.
Die drei Protagonistinnen Melanie Flut (Marysol Ximénez-Carillo), Kimberly Schnell (Elisabeth Köstner) und Marie-Louise Reich (Franziska Becker) passen zum knitterfreien Ambiente. Sie sehen aus wie Werbespot-Hausfrauen der Sechzigerjahren, tragen quietschfarbene Polyester-Kleider, toupierte Perücken und Haarbänder.
Alles scheint perfekt, bis zwei der Frauen einen obszönen Brief vom arbeitslosen Nachbarn Erwin Kannes (Alexander Prosek) bekommen. Erwin Kannes ist das, was John Falstaff im Shakespeares-Stück „Die lustigen Weiber von Windsor" ist.
Er denkt seine Wirkung auf Frauen ist imens - und überschätzt sich dabei ständig selbst. Als Klischee eines Langzeitarbeitslosen passt der Anti-Held so gar nicht in die Pastell-Welt, trägt Goldkette, üppigen Brusthaarwuchs über dickem Bauch und Vokuhila. Sein Lebensmotto: „Bloß nicht unnötig bewegen".
„Ekelhaft", finden das die Frauen. Wäre da nicht das sexlose Eheleben von Melanie, das sie, nach kurzer Beratung mit ihren Freundinnen, dazu bewegt, auf das frivole Angebot von Kannes einzugehen - natürlich nur, um ihren Ehemann eifersüchtig zu machen. Es ist ein Plot nach „Desperate Housewifes"-Logik: Die Frauen trinken giggelnd im Negligé Sekt und schließen einen Pakt gegen die Männer. Die Charaktere sind zugespitzt und holzschnittartig. Im Letterland-Idyll gibt es nur Stereotype: Die dumme Blondine, die unterforderten Hausfrauen, der Ehemann in der Midlife-Crisis und der faule Arbeitslose, der den anderen die Krisen ihres Lebens vorführt.
Das Stück ist eine dystopische Paraphrase auf die Trägheit des Mittelstand-Alltags: Wer Kinder hat, hat keinen Sex, die pubertierenden Teenies tragen Che-Guevara-Jacken und rebellieren gegen die Konsumwelt ihrer Eltern und die Freundinnen schlafen mit dem Ehemann - so die Krisen der mittelalten Vorstädter aus den Siebzigern.
Die alberne Komik passt zur Klischee-Welt: Als Melanie und ihr Mann Sex haben wollen, plärren die Kinder los. Der unerfahrene Oliver Kononpke (Jürgen Brehm) bekommt einen Asthmaanfall, als er seine Traumfrau die naive Barbie-Blondine Sandy Deutschmann (Valentina Inzko Fink) berührt.
Am Schluss singen alle Nachbarn endlich vereint unter den Bettdecken ein Loblied auf die körperliche Liebe. „Erwin Kannes - Trost der Frauen (Letterland)" ist mehr leichte Komödie, als intellektuelle Kapitalismus-Satire. Das kommt an: Die Zuschauer lachen über die Nachbarschaftsplänkeleien und applaudieren anhaltend.
Normen der Plastik-Welt
Auch die Lieder auf der Bühne passen zum Ambiente, es sind poppig-leichte Chansons, die Stimmen melodisch und das Orchester im Graben unter der musikalischen Leitung von Andreas Unsicker kontextualisiert das Bühnengeschehen beeindruckend sauber und genau.
Dabei kippt die paradiesische Stimmung auf der Bühne schnell.
Auch, weil Erwin Kannes es eben kann: Der Antiheld philosophiert mit jungen Männern an der Bushaltestelle über das Leben, hört den verzweifelten Hausfrauen zu und schläft mit ihnen - oder wie es im Stück heißt: „tanzt mit ihnen Walzer".
Kannes stellt die gesellschaftlichen Normen der Plastik-Welt in Frage. Ist die Utopie am Ende eher eine Dystopie? Je mehr die perfekte Welt im Lauf des zweieinhalbstündigen Stücks ins Wanken gerät, desto zynischer erscheinen auch Zeilen wie „Das Glück wohnt immer nebenan im Letterland". Und die Vorstadt-Idylle scheint zu scheitern.