Katja Sturm

Sportredakteurin, freie Journalistin, Frankfurt

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Rotation am Limit

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Konzentrierte Ruhe herrscht in der Trainingshalle der Kunstturn-Weltmeisterschaften von Antwerpen. Sportler aus Japan, Korea und Mexiko spulen an den Geräten ihre Programme ab oder dehnen auf dem Teppichboden liegend ihre müden Glieder. Ab und an geben die Betreuer Anweisungen, ganz unaufgeregt. Alles scheint selbstverständlich, kaum der Rede wert. Doch wenn Kenzo Shirai auf der Fläche Anlauf nimmt und sich in die Höhe schraubt, richten sich die Blicke vieler auf den jungen Japaner. Viermal wirbelt er um die eigene Längsachse, schneller als das Auge folgen kann, und trotzdem landet er nach seinem Schraubensalto sicher auf den eigenen Füßen. Trainer und Kollegen zollen Applaus. Jedes Mal wieder. Selbst bei den höflichen Asiaten kommt das selten vor. Doch was der erst 17-Jährige aus Yokohama kann, ist in der Welt der Sprung- und Koordinationskünstler bislang einmalig. Die Vierfach-Schraube am Boden steht zwar schon länger in den internationalen Wertungsvorschriften, im Wettkampf gezeigt hat sie vor Shirai allerdings noch keiner. Mancher dachte sogar, man würde sie trotz stetig verbesserter Gerätetechnik auch nie zu sehen bekommen. Denn irgendwann muss der Körper doch seine Grenzen erreichen.
Sein besonderes Können hat dem Leichtgewicht Shirai früh das Tor zur Nationalmannschaft geöffnet. Der 1996 geborene Teenager ist der jüngste Athlet, der jemals für ein japanisches WM-Team nominiert wurde. Laut Harudo Mizuguchi, seinem Heimtrainer, verdankt der gerne zu Scherzen aufgelegte Athlet sein Vermögen neben außerordentlichem Talent vor allem dem eigenen Ehrgeiz und Trainingsfleiß. Als Dreijähriger zum Turnen gekommen, übte er schon früh auf dem Trampolin am liebsten Schrauben. „Er hat einfach Spaß daran“, erzählt Mizuguchi. Zudem schaute sich der Junior bei den Älteren einiges ab. Doch die ganz eigene Technik, die ihm neben der Sprungkraft die schnellen Rotationen ermöglicht, beruhe nicht etwa auf der Basis wissenschaftlicher Berechnungen, sondern auf dem besonderen Körpergefühl des Sportlers. Er habe sie sich selbst erarbeitet, erklärt der Coach. Sicher werde es bald Nachahmer geben. In Japan zumindest soll die neue Variante in Zukunft ins Ausbildungsprogramm aufgenommen werden.
Ganz gerade und gestreckt liegt Shirai in der Luft, sein schmaler Körperbau begünstigt die Drehbewegung. Auf mehr als 20 Rotationen um die Längsachse kommt er in seiner Bodenkür; den Höhepunkt, die Vierfachschraube, zeigt er erst in der letzten Bahn, in der es anderen durchtrainierten Athleten oft schon an Kraft mangelt. 7,4 beträgt seine Schwierigkeitsnote, die ihn deutlich von der Konkurrenz abhebt. Sollte er am heutigen Samstag im Finale gut durch sein Programm kommen, dürfte dem Vorkampfersten der Titel an diesem Gerät kaum zu nehmen sein. Auch am Sprung, wo er ebenfalls in die Entscheidung am Sonntag einzog, hat Shirai beste Chancen. Dort zeigt er den Jurtschenko, einen aus der Radwende vor dem Brett geturnten Salto, ebenfalls als Weltneuheit mit Dreifachschraube.
Kritiker, die dem in Antwerpen nur an zwei Geräten eingesetzten Turner vorhalten, er könne wohl nur schrauben, sei also einseitig begabt, zeigt Trainer Mizuguchi stolz ein Video auf seinem Smartphone. Darauf präsentiert Shirai einen sauberen Doppelsalto mit doppelter Schraube. Auch als Mehrkämpfer soll der Japaner Potenzial haben. „Jeder hat seine Stärken“, kommentiert Fabian Hambüchen, gerade erst zum drittbesten Allrounder der Welt gekürt, das neue Juwel im asiatischen Auswahlteam. Aber sicher habe Shirai auch Schwächen. Da er in Antwerpen allerdings nur an zwei Geräten im Einsatz war, bleiben die bislang verborgen.