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Getöte Zi­vi­lis­t*in­nen in Kolumbien: Mordmaschine Militär

Vor dem Gebäude der Sonderjustiz in Bogotá: Angehörige demonstrieren für Gerechtigkeit. Foto: Daniel Munoz/afp

Die Armee hat zwischen 2002 und 2008 fast dreimal so viele Menschen ermordet wie bisher bekannt. Das hat die „Sonderjustiz für den Frieden" ermittelt

BOGOTÁ taz | Es ist eine Zahl, die Kolumbien erschüttert: Mindestens 6.402 unschuldige Menschen hat die Armee zwischen 2002 und 2008 ermordet - im Durchschnitt fast drei Menschen pro Tag. Das hat die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) in einer ersten Untersuchungsphase ermittelt. Es sind fast dreimal so viele wie bislang bekannt.

Hinter der beschönigenden Formulierung der „Falsos Positivos" (in etwa falsche gegnerische Verluste) verbirgt sich eines der größten Verbrechen in der Zeit des bewaffneten Konflikts: Um Quoten zu erfüllen und Prämien einzustreichen, ermordete die Armee auf Druck der Regierung Tausende Zivilist*innen. Die Sol­da­t*in­nen verkleideten sie als Rebellen, deponierten teils Waffen neben ihren Leichen. Die meisten der Opfer waren Männer, Menschen aus armen Familien, Bauern, aber auch Obdachlose und Drogenabhängige.

Eines der Opfer ist Blanca Nubia Monroys Sohn Julián. Er war 19 Jahre alt, fleißig, hilfsbereit, aber seit Monaten ohne feste Arbeit, als ihn in Bogotás Vorstadt Soacha jemand ansprach und einen Job versprach. Am 2. März 2008 verließ er das Haus, um ihn zu treffen. Ein halbes Jahr Suche später identifizierte die Familie seine Leiche rund 19 Stunden Busfahrt entfernt in einem Massengrab auf dem Friedhof in Ocaña. Am 3. März sei ihr Sohn, der Guerillero, bei einem Gefecht mit der Armee getötet worden, teilte man Blanca Nubia Monroy mit.

Seitdem kämpft die Mutter zusammen mit rund 20 Frauen der Vereinigung „Mütter der ‚Falsos Positivos' von Kolumbien" (Mafapo) für Gerechtigkeit. „Wir kämpfen darum, dass die Welt erfährt, dass unsere Söhne keine Guerilleros waren, sondern ganz normale Menschen mit Plänen und Träumen." Dass es jetzt offi­ziell 6.402 Opfer sind, hat Blanca Nubia Monroy (62) nicht überrascht. „Nach unseren Recherchen und der von Menschenrechtsorganisationen sind es mindestens 10.000."

Die Zahl könnte noch steigen

Gut möglich, dass die Sonderjustiz diese Zahl noch erreichen wird: Denn in der ersten Phase der Untersuchungen hat sie sich bisher nur die sechs Gegenden vorgenommen, in denen die meisten Fälle vorliegen, und nur den Zeitraum von 2002 bis 2008. Zudem könnten sich von der Arbeit des Sonderjustiz Angehörige ermutigt fühlen, ihre Fälle anzuzeigen, die dies jahrelang erfolglos bei staatlichen Organen versucht oder aus Angst geschwiegen hatten.

Anfangs stand sie der Sonderjustiz skeptisch gegenüber, erzählt Mutter Blanca Nubia Monroy. „Wenn die Täter die Wahrheit sagen, müssen sie nur acht Jahre ins Gefängnis." Die ersten Anhörungen seien für die Hinterbliebenen eine Enttäuschung gewesen. „Wir haben viele Lügen gehört, das machte uns so wütend!"

Doch mittlerweile sagt Monroy: „Die Sonderjustiz gibt uns Hoffnung. Sie ist wie ein Fenster, das sich immer weiter öffnet. Wir werden früher oder später die Wahrheit erfahren. Ohne sie hätten wir das nie."

Eine der Hauptfragen lautet: Wer gab den Befehl? Das gelbe Wandbild mit dieser Frage und den Gesichtern hochrangiger Militärs wird regelmäßig schnell überstrichen. Das Motiv, gedruckt auf Mundschutz, ist ein kleiner Verkaufsschlager der Mütter in der Pandemie geworden. Die Antwort kommt näher.

Meiste Hinrichtungen fallen in Ex-Präsident Uribes Amtszeit

Während wohl die eine Hälfte der Bevölkerung die Bekanntgabe der Sonderjustiz als wichtigen Schritt in Richtung Anerkennung und Wahrheitsfindung feiert, setzt Ex-Präsident Álvaro Uribe zum Gegenangriff an. In seine Amtszeit fallen die meisten der außergerichtlichen Hinrichtungen. Anders als sein damaliger Verteidigungsminister, der spätere Präsident und Friedensnobelpreisträger J uan Manuel Santos, hat sich Uribe nicht angeboten auszusagen. Stattdessen bezeichnete er in einer ersten Stellungnahme unter anderem Menschenrechts- und Opferorganisationen sowie Anwaltsvereinigungen als Feinde seiner Regierung.

Der oberste Kommandant der Armee, Eduardo Enrique Zapateiro Altamiranda, sowie der offizielle Twitter-Account der Armee teilten als Reaktion ein Video. Es zeigt mehrere Schlangen, die unter martialischer Musik und Einblendung von Bibelversen vergeblich eine Eidechse einfangen wollen. Text: „Wir sind Soldaten der kolumbianischen Armee und werden uns auch von noch so vielen perversen Giftschlangen nicht besiegen lassen, die uns angreifen, anzeigen oder schwächen wollen. Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten, wir ergeben uns nicht, wir lassen nicht nach, immer stark mit erhobenem Haupt. Gott ist mit uns."

„Sie tun Böses und wir sind die Bösen", sagt Blanca Nubia Monroy empört. „Wir sind der Stein im Schuh von Uribe, der Militärs, der Generäle."

Blanca Nubia Monroy wohnt schon lange nicht mehr in Soacha, weil sie dort bedroht wurde. Die Bekanntmachung der Sonderjustiz verbindet sie auch mit Angst: „Wir leben in großer Gefahr, es gibt viel Korruption in der Regierung, der Armee, der Polizei", sagt sie. „Man weiß nicht, ob nicht ein paar Mütter verschwinden werden." Eine der Mütter aus der Vereinigung sei nach der Nachricht von zwei Männern auf einem Motorrad verprügelt worden. Die Täter, unbekannt, sagten, sie solle ihren Mitstreiterinnen ausrichten, dass dies eine Warnung sei.

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