Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

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Rezension

Ganz großes Besteck: Nürnberg.Pop 2021

Musikfestival, das ist ja freilich eh ein Garant fürs ganz große Besteck der Emotionen. Für Freude und Ausgelassenheit, für seliges Grinsen und überbordende Liebeserklärungen zu meist fortgeschrittener Stunde, gelegentlich auch schon früher. Für Hand-in-Hand und Arm-in-Arm und Forever Young. Jetzt stellen wir uns mal vor, diese emotionalen Wildfänge nehmen wir und sperren sie ein für sagen wir so ungefähr zwei Jahre und machen dann unvermittelt das Gatter auf. Die meisten dieser buntglucksenden Glückskugeln werden zögern, stutzen und ihren Augen nicht trauen – um dann loszugaloppieren, raus in diese Freiheit, die sie aus Versehen fast vergessen hätten … So ungefähr fühlt sich das an. Nach dieser ganzen Zeit ein Musikfestival zu besuchen, das wahrscheinlich, vielleicht, hoffentlich ein Testival ist für alles Künftige. Denn während vor einem Jahr die Jubiläumsausgabe Süddeutschlands größten Showcasefestivals in aller Eile zur Notlösung abspecken und seine verunsicherten Besucher in kleine Sitzquadrate sperren musste, hieß es für Nürnberg.Pop #11 gut eine Woche vor Eröffnung in einer seltsamen Mischung aus „War doch klar“ und „What?!“: Festival like it’s 2019! Bedeutet: Keine Planquadrate für abgezählte Gäste, sondern Spielort-Hopping wie eh und je. Kein betonfüßiges Sitzzappeln, sondern freie Wahl für freien Platz in freier Gesellschaft. Kein Maskenabstandsausweichballett, sondern Kopfnicken und Hotsteppen und Engtanzen und vielleicht sogar ein bisschen Moshpitten dank 3G mit strenger Kontrolle, Ein- und Auscheckhinweis, an jeder Bühne unermüdlich vorgetragen vom Sicherheitspersonal, das klickernd die Besucher zählt: 50 bis 70 Prozent statt voller Auslastung erlaubt. Bedeutet viele Laufkilometer zwischen zehn Spielstätten von Open Air bis Untergeschoss, zwischen Katharinenruine und Neuem Museum mit 40 Konzerten – ungefähr, weil manche ausfallen und andere spontan zugegeben werden. Samstagabendszene, 23 Uhr, Klaragasse: Vor dem Club Stereo stehen Menschen Schlange, es fehlt nicht viel zur klassenausflugsartigen Zweierreihe, man hat britische Geduld gelernt. Es ist zudem egal, weil oben haben die Schweden von Tribe Friday nicht genug und ihren Gig kurzerhand auf die Straße verlängert, während Fortuna Ehrenfeld die Vorband für Die Sterne geben, Apanorama, Shantel und Skyline Green im Schnelltakt die Füße kitzeln und June Coco verirrte Gemüter streichelt, glatte Lässigkeit Mädchenherzen in der ersten Reihe brechen (Jeremias, Niko Laska) lässt, angestrengte Gangsterattitude Stirnen runzeln (BLVTH) und losgelöste Euphorie entfesselte Jubelschreie („LECK! MICH! AM! ARSCH!“) erklingen (Lui Hill). Alles an zwei Tagen, alles irgendwie gleichzeitig. So ist das bei Nürnberg.Pop, das weniger Popmusik ist als vielmehr Popkultur, das eine Focus Nürnberg Bühne hat für Nachwuchskünstler und mit GUNDA eine Auszeichnung etabliert, die nicht minder ernsthaft ist als das weiter gereifte Programm der Conferences: Workshops und Gesprächsrunden mit klugen Gästen aus Politik, Showbiz oder Sport, die Diversity diskutieren wie auch kulturelle Zukunft. Der glänzende Zeiten bevorstehen, so lange es Menschen gibt mit Vision für Neues und Mut zum Glück. Emotionen? Ja! Großes Besteck? Und wie!