Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

1 Abo und 4 Abonnenten
Artikel

30 Jahre großer Trugschluss - Diethard Riedel

Lange Jahre dachte ein Nürnberger Künstler, er sei der erste, der das Farbspray als künstlerisch probates Mittel einzusetzen begonnen hätte. Als Diethard Riedel einen Irrtum schließlich erkennt, beginnt er, der Zerstäubung bunter Teilchen nachzuspüren – um heute „kunsthistorisch sattelfest Reisen durch die Moderne“ zu unternehmen.

Vorläufiges Ziel dieser Reise war, man bleibt trotz aller intellektuellen Größe bescheiden, Schloss Almoshof. Zwischen 50 und 100 Bilder hatte sorgsam ausgewählt aus seinem Œuvre, war abgetaucht in 50 Quadratmeter, in denen fast 40 Jahre Farbe und Experiment, Kunst und Theorie auf Leinwänden und Schachteln, figürlich oder dimensionslos lagern. 2000 Werke, in denen der Nürnberger Bankfachangestellte der Spraydose als künstlerisches Werkzeug hinterherspürt, dem Einsatz durch die Jahrhunderte, sich selbst, den „spray avant-gardist, spray art historian, theoretican and cosmopolite“. Der erhielt den Ruf zur Kunst 1983 im Schwäbisch-Hall’schen Elternhaus beim Radl neu lackieren: aus dem Dosenrest zaubert Riedel nicht etwa einen Strich und zwei prima Punkte, sondern Bedeutsames: „Imaginäres, extrem reduziertes Selbstbildnis, mit dem Blick des Künstlers in die Zukunft und sein künftiges spraykünstlerisches Schaffen und Wirken“ Die Saat der Erkenntnis dergestalt gesetzt, widmet der étudiant en art fortan seine Zeit der Dose: der Nicht-Kontakt zum Bildträger ist es, die Möglichkeit des dreidimensionalen Malens, das hochsensible Sprühbild – Freude schöner Farbenfunken! Es kommt zur ersten Schaffensphase. Die Stationen tüpfeln sich durch die Jahre und Jahrzehnte. 30 Jahre Arbeit, die in der Gründung der „Modern Spray Art Group“ gipfelt und einer ersten großen Ausstellung. Und dank einer aufmerksamen Gästin in der „Erkenntnis, dass es vor und neben mir auch andere klassische, aus dem Atelier kommende Künstler gibt, die mit Sprays arbeiten.“ 30 Jahre „großer Trugschluss“ – das kann Diethard Riedel so nicht stehen lassen, und er beginnt, sich durch die Jahrhunderte zu lesen. „Ich habe fünf Jahre lang 20 Stunden pro Woche im Internet Chaosforschung betrieben, fünf Jahre meines Lebens geopfert“, so der Späterleuchtete; „Schlagwortsuche“, die vor 30 Jahren naturgemäß nicht möglich war. Und Diethard Riedel taucht durch die Historie, entdeckt „Sprays als kleinste Farbpartikel“, mit denen schon in der Steinzeit Kunst betrieben wurde, erkennt, dass „bei Sprühkunst jeder nur an Graffiti, Tags, Charakters denkt“, was toll ist, aber „diese Gleichsetzung kann ich nicht stehenlassen“, nutzt die Schaffenspause, um den „kunsthistorischen Fehler neu zu denken“ und den Einsatz von Airbrush und Sprühpistole als Mittel der Zerstäubung bei 500 Künstlern in den letzten 100 Jahren zu identifizieren. „Spraykünstlerische Positionen als ausschließlich bewusste Reise durch die Geschichte und zeitgenössische Vielfalt der Moderne und insbesondere Spraykunst“ nennt das Diethard Riedel, der sich nunmehr firm genug fühlt in Raum und Zeit, berufen nachgerade, auf den Spuren Klees und Ittens wandelnd der Kunstwelt ein Vermächtnis zu Lebenszeit zu erschaffen: In der „Gestaltungslehre für die Kunst mit weitwinklig zerstäubten Sprays“ seziert Diethard Riedel die Spraykunst in Einzelteile, bestimmt Punkt, Linie, Fleck oder Oval als Element und diagnostiziert „opake“ (deckende) und „transluzente“ (durchscheinende) Darstellungsweisen, nachzulesen auf der enzyklopädischen Webseite des Künstlers, der ganz und gar theorieentbunden sein bronchienschonendes Outdoor-Atelier auf einem Grünstrich zu Nordfuße der Burg installiert und „jeden einlädt, mitzumachen.“ Das wichtigste sei ihm, Wissen unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Diese „faszinierende Freiheit des Entbundenseins von der Materie“, von der Diethard Riedel dank Corona bis auf Weiteres entbunden bleibt. Die Ausstellung? Abgesagt, natürlich. Aufgeschoben, freilich. Der nächste Sommer wird kommen, mit Outdoor-Workshops und transluzentem Potential. „Ich bin verliebt in die Spraydose“, sagt Diethard Riedel. Vielleicht ist das das Wichtigste.

diethardriedel.de/