Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

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Wenn der Ball rollt, ist in Nürnberg Geisterstunde

Samstagabend, kurz nach neun, Nürnberg, Innenstadt. Wo sich normalerweise Massen von A nach B schieben, Junggesellenabschiede mit runden Geburtstagen um den besten Platz am Tresen wettlaufen, Einheimische wie Besucher auf dem Weg sind, die Nacht zu erobern, und ein flotter Gang vom Hauptbahnhof zur Lorenzkirche Geschick im Hindernislauf erfordert, herrscht nun: Leere. Stille. Nürnberg - Geisterstadt.

Das zweite deutsche Gruppenspiel bei der WM ist angepfiffen. „Wir sind Deutschland" heißt es jetzt, dem kann man sich nicht überall entziehen. Wo es geht, sitzen Menschen vor der Glotze, die Innenstadt gleicht dort einem großen Kino, in dem nichts zu hören ist außer TV-Kommentator Tom Bartels, der fröhlich schwatzend dafür sorgt, dass auch die, die sich nicht im Wohnzimmer, Biergarten oder dicht gedrängt vor dem Imbiss-Bildschirm dem Spiel widmen, wissen, was auf dem grünen Rasen passiert. Den Rest erledigen kollektive „Ohs" und „Ahs" derer, die seit Stunden die Stellung halten, um die beste Sicht zu haben. Gelebt wird erst wieder ab 22.45 Uhr, bestenfalls im Freudentaumel.

Nur ganz vereinzelt eilen Menschen durch die Straßen rund ums Königstor. Die werden doch nicht . . . ? „Nein, nein!", sagen Thomas (27) und Carina (23), „Wir sind grad auf dem Weg zum Spielgucken." Dann ist ja alles gut.

Und die Damen hier wohl auch? „Wir haben keinen Platz mehr gefunden", geben Helga, Gerlinde und Heidi zu Protokoll. Dieses Fußball, sagen die Freundinnen, alle um die 60, sei jetzt aber eh nicht so wichtig. Man würde lieber noch was trinken gehen.

Womit es hier eng werden dürfte. Menschenstapel im „Balkon", das gleiche Bild vor „Finnegans", „Pillhofer" und „Hans im Glück", alle Augen geradeaus. Auch Geschrei vor der Dönerbude. Aber: Kein Fußball? „Ne, isunsegal." Die Türkei spielt nicht mit.

Sylvia und Harry (45) fanden Fußball früher schon mal gut, heute aber die hiesige Kultur wesentlich interessanter. „Das Spiel zu gucken hat ja so etwas nett Verbindendes", sagen die Besucher aus Frankfurt zwar. „Und wir bleiben schon auch mal stehen und gucken, aber extra deswegen irgendwo reinsetzen? Nö." Sie bewundern lieber die Klarakirche.

Für die haben Nathalie und Michael keinen Blick, „wir müssen schnell zum Hans im Glück", ruft das junge Pärchen in großer Eile - von der Shana, Simona, Romi und Naila weit entfernt sind. Gemütlich schlendern die Freundinnen, alle um die 30, Richtung Bahnhof. Den Junggesellinnenabschied habe man tagsüber am Stadtstrand gefeiert, nun gehe es heimwärts. Nach Augsburg. „Fußball interessiert uns erst, wenn's enger wird." Halbfinale, Finale, da wird dann das Braut-Krönchen gegen das schwarzrot-goldene Toupet getauscht.

So weit denkt Christian (31) noch nicht. Abseits der Kneipen und TVBildschirme, im Nichts, lehnt er an einer Litfaßsäule - um „schon die ganze Zeit SMS zu schreiben". Das könnte man aber auch vor dem Bildschirm? Schon, sagt er, aber wenn er darüber nachdenkt, sei er „schlicht zu faul, sich einen anderen Platz zu suchen".

Viele freie Plätze bietet das Artefakt ein paar Meter weiter. Jedoch: gänzlich fußballfrei. „Sport ist doof und Sport gucken noch viel doofer", erklärt Wirtin Nicole (30), und Kompagnon Christopher (37) beteuert: „Ich hab's versucht, aber es fasziniert mich einfach nicht." Da kann man nichts machen. Findet Bertram prima: „Egal ist mir das nicht, aber ich hab einfach noch kein WM-Gefühl entwickelt." Außerdem, so der 56-Jährige, schaue er eh nur, wenn Fürth spielt.

Derweil eilt Jo (22) die Königstraße hoch. Fußball sei ihm eigentlich egal, aber: „Alle Freunde gucken, also gehe ich halt zu denen", sagt er und saust an Taxifahrer Hüdaverdi vorbei, der die Gunst des Moments nutzt. Der Fahrgast ist noch nicht da, also reckt er den Hals zum nächstem Bildschirm. Schon kommt der zu chauffierende, weiter geht's im Geschäft.

Währenddessen durchleidet Familie Martin eine mittelschwere Krise. Die vier Touristen aus den USA haben alle keinen Sinn für Fußball, abgesehen von Tochter Carly (23), „wegen ihr müssen wir ungefähr alle drei Meter stehenbleiben und irgendwo gucken", seufzt Vater Tim, Mama Betsy und Schwester Caryn (20) nicken. Dabei sei Nürnberg so hübsch und man habe noch so viel zu tun heute. Also schnell vorbei an der Bildschirm-Traube zum nächsten Sightseeing-Punkt.

Mario (32) hat andere Gründe: „Eigentlich sollte man die ganze Fifa boykottieren", echauffiert er sich. „Diese Säuberungsaktionen im Vorfeld waren unfassbar, der Schiri im Eröffnungsspiel offensichtlich bestochen." Trotzdem blickt er immer wieder zu einem Bildschirm, man kann halt nicht aus seiner Haut.

Schnell aber in eine andere hinein - was Siri ärgert: „Ich finde es affig, dass Leute, die sich das ganze Jahr über nicht für Fußball interessieren, jetzt auf einmal derart begeistert tun, dass es schon wieder völlig übertrieben ist", sagt die 29-Jährige. Aber dass das gemeinsame Gucken schon ein Event ist. Beinahe überall.

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