Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

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Ein Loch im Ohr schockt niemanden mehr

Nadine Witzke modifiziert ihren Körper mit vielfältigen Tattoos und Piercings. © Fotos: Eduard Weigert

Piercings waren wie Tätowierungen einst ein Körperschmuck für Menschen, die ihre Nonkonformität zum Ausdruck bringen wollten. Heute regt sich über einen Nasenring oder ein großes Loch im Ohr niemand mehr auf.


Wer sich heute 20 Jahre zurückerinnert, für den schien damals die Welt der Gepiercten ziemlich einfach zu sein: Silbrige Sonnen zierten den Bauchnabel nur von Tussen; einen Ring durch die Augenbraue braucht, wer Raven geht; Zungenstecker hat irgendwas mit Knutschen zu tun - und der Rest trägt geschossene Ohrlöcher vom Juwelier um die Ecke oder ist ein Freak.

Heute ist das anders.

In der sprichwörtlichen Mitte der Gesellschaft, in der zur Hochschulreife auch ein buntes Ganzkörpertattoo erworben wird, ist das Piercing angekommen. Zwischen 18 und 88 wird gepierct; was früher Szene war, ist heute ein Accessoire für beinahe jedermann. Deswegen dürfen wir guten Gewissens also ins Feld führen, dass es auf dem Körperschmuck-Sektor genauso Trends gibt wie auf allen anderen modischen Gebieten.

Das "Heartilage", also ein Piercing in Form eines Herzchens, das meist am oberen Ohrmuschelrand getragen wird, sorgte Anfang des Jahres bei einschlägig-seriösen Expertenmagazinen wie taff und Bunte für Entzücken. An diesem Trend, hieß es, komme 2017 niemand vorbei. Dabei, weiß Nadine Witzke von "Visavajara Tattoo + Piercing", sei vor allem eins wieder "wahnsinnig gefragt: das Nasenpiercing".

Mit Ring ein wenig provokanter als die dezenten Steinchen vergangener Zeiten, erfährt der Nasenschmuck jedoch noch eine weitere Zuwendung. Als "Septum" nämlich, das wie in der Szene üblich sowohl Name des Schmucks als auch der geschmückten Körperstelle darstellt und ergo als unter den Knorpel gestochener Ring oder Stab die Nasenscheidewand verziert. Ein Männerpiercing war es einst, mittlerweile verlangt die Damenwelt danach, was früher mal Tanzbären und Zuchtbullen vorbehalten war. "Vor 20 Jahren", sagt Frank Cullmann, Inhaber von "Cullmann Tattoo + Piercing", da war das Septum "noch was Wildes". Heute sei es eher ein "Hipster Ding" und ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Schmuckstück.

Schuld an Trends, sagt Nadine Witzke, seien auch in ihrem Metier oft die Medien: Kaum habe sich Schauspielerin Scarlett Johansson mit Septum gezeigt, stieg die Nachfrage spürbar an. Bauchnabel und Zunge brauchen dagegen keine Unterstützung aus Hollywood. Beides werde ungebrochen oft verlangt. Nur eins, da sind sich Frank Cullmann und Nadine Witzke, die beide selbst zumindest zeitweise knapp 20 Piercings tragen, einig, würden sie nie machen: die Zunge horizontal zu piercen. Das berge große Gefahr für Zahnschäden oder eine Zungenblockade.

Neben mittlerweile wieder rückläufigen Trends wie "Skin Diver" oder "Dermal Anchor", also das Einsetzen kleiner Schmuckstücke plan in die Haut, was dann beispielsweise aussehen kann wie ein metallischer Schönheitsfleck, sei ein Trend klar zu erkennen: Während früher alle Piercings aus silbernem Chirurgenstahl glänzten, tragen vor allem die Damen heute gerne Gold und Rosé-Gold. "Über die Jahre hat sich viel getan, was den Schmuck betrifft", so Nadine Witzke, die Beschichtungen hielten mittlerweile "wahnsinnig gut" und seien biokompatibel.

Wo die Mädels verträumt schimmern, bevorzugten die Männer "schwarz eloxiert", so Frank Cullmann, der weiß, dass Körperschmuck wie "Tunnels", also künstlich geweitete Löcher im Ohrläppchen, "mit der Zeit so normal werden, dass du die Leute damit nicht mehr schocken kannst". Eher ungewöhnlich ist für die meisten wohl, was Visavajara-Mitinhaber Oliver Neuhard berichtet. "RFID Chips" werden seit einigen Jahren von sehr speziellen Kunden nachgefragt. Diese Chips sind so groß wie ein Reiskorn und auf ihnen kann man beispielsweise medizinische Daten speichern.

Zukunftsmusik? "Das wird kommen", ist sich Frank Cullmann sicher und erzählt vom Vater, einem Seemann, der sich in mehreren Sprachen einen Hinweis auf eine Penicillin-Unverträglichkeit auf den Unterleib tätowieren ließ.

Ein Notfall auf dem Schiff - da ruft man nicht erst den Hausarzt an und lässt in der Krankenakte nachschlagen. Auch Blutgruppen zu tätowieren sei einst Usus gewesen. "Da ist doch das Chippen nur die logische Ablösung", findet der Tätowierer. Wichtiger als die Beschäftigung mit potenziellen Möglichkeiten sind ihm und Nadine Witzke aber die einwandfreie Betreuung der Kunden. "Aufklärung ist das A und O", so Cullmann. Das kann auch die respektvolle Nachfrage bei einer Kundenentscheidung bedeuten, beinhaltet in jedem Fall aber die richtige und wichtige Nachsorge.

"Ein Piercing ist immer noch ein Eingriff in den Körper", sagt Nadine Witzke, darüber müsse man sich im Klaren sein und gewisse Regeln einhalten. "Wenn irgendwas passiert nach dem Stechen, dann meist nur, weil die Leute sich nicht an die Pflegehinweise halten." Die Wunde mehrmals am Tag mit speziellen Lösungen zu behandeln gehört ebenso dazu wie auch das Meiden von Schwimmbad, Sonne und Solarium. "Das ist ein gewisser Aufwand, der jedem vorher klar sein sollte", findet Witzke und berät die Interessenten deshalb nicht nur gewissenhaft im Vorfeld, sondern macht auch "Nachbetreuung inklusive".

Das bietet in der Branche leider nicht jeder. Entzündungen, mangelnde Anatomiekenntnisse, asymmetrische Löcher oder einfach falscher Schmuck sind immer wieder das Ergebnis von Besuchen bei zwielichtigen, unerfahrenen Anbietern. Günstige Preise für den ersten Ohrschmuck mögen verlockend sein, können aber mit gewissen Risiken einhergehen. Gerade das einst so verbreitete "Schießen", also das Katapultieren eines vergleichsweise stumpfen Steckers durchs Gewebe mittels "Pistole", ist nicht ratsam. Wer sich's nicht vorstellen kann, versucht einfach mal, einen Luftballon mit einem hierfür verwendeten sogenannten "medizinischen Stecker" zum Platzen zu bringen.

Ein erfahrener Piercer verwendet zum Durchbohren des Gewebes eine Braunüle (oder stelzig: peripherer Venenverweilkatheder) wie man ihn auch bei medizinischen Eingriffen im OP vorfindet: steril, messerscharf und risikoarm. Ein Trend? Nein. Das war schon immer so.

KATHARINA WASMEIER

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