Katharina Strobel

Freie Journalistin • Brüssel • Edinburgh

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Da, wo der Wind des Wandels bläst

Schottland nach den Wahlen: Ein Land auf dem Weg zur Unabhängigkeit?

Von Katharina Strobel

Kirkcaldy. Wenn an diesem Tag im Mai etwas an die politische Explosion erinnert, dann ist es dieser ungeheure Wind, der in Kirkcaldy über die Esplanade fegt und den Regen von unten in Röcke und Hosen peitscht. Mit ähnlicher Kraft gelang es der Schottischen Nationalpartei (SNP) eine der sichersten Labour-Festungen in Schottland, Kirkcaldy, zu stürzen und mit einem überwältigenden Wahlsieg politische Geschichte zu schreiben.

Erdrutsch, Tsunami, Vulkanausbruch stand am nächsten Tag in der Presse, weil kein anderer Vergleich stand hielt. Was ist passiert? Mehr als eine Woche nach der Wahl stellt sich David Torrance dieselbe Frage. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich mit diesem Sieg nicht gerechnet“, erklärt der SNP-Politiker aus Kirkcaldy, der von einer zur nächsten Minute Abgeordneter und so etwas wie ein regionaler Held geworden ist. Nicht, dass der 50-Jährige nicht hart dafür gekämpft hätte. Im Gegenteil, seit Januar klapperten Torrance und sein 40-köpfiges Team 60.000 Haushalte ab und verteilten dreimal so viele Infobroschüren.

Aber der Sockel seiner Labour-Rivalin Marilyn Livingstone schien zu hoch. Zwölf Jahre lang vertrat sie die Menschen von Kirkcaldy im Edinburgher Holyrood-Parlament und erfreute sich großer Beliebtheit. Dass die Menschen von Kirkcaldy jemals etwas anderes wählen könnten als Labour, überschritt das Vorstellungsvermögen. Labour könne einen Affen ins Rennen schicken, sagen sie hier halb im Spaß, halb ernst, die Leute von Kirkcaldy würden ihn trotzdem wählen.

Und dann das. Ausgerechnet die SNP. „Das Ironische an der Sache ist, dass das schottische Parlament eingeführt wurde, um die SNP in Schach zu halten“, erklärt John Curtice, Politikwissenschaftler an der Strathclyde Universität, „Labour hatte Angst, Stimmen an die SNP zu verlieren und wollte zugleich die Debatte um die Unabhängigkeit zügeln.“ In den zwölf Jahren der schottischen Teilunabhängigkeit von London gelang es der SNP zur beliebtesten Volkspartei nördlich der englischen Grenze zu werden.

Kirkcaldy ist ein kleiner Ort. 49.000 Einwohner leben in diesem langen Streifen Stadt, der sich rund 50 Kilometer nördlich der schottischen Hauptstadt entlang der Küste ergießt. Wenn man am Wasser steht, sieht man Edinburgh von hinten, den großen Vulkanausläufer Arthur’s Seat, der Kirkcaldy arrogant den Rücken kehrt. So wirkt es, wenn man hier steht und tatsächlich sieht sich der kleine Ort nördlich des Wassers als arme Verwandtschaft im Schatten der reichen Machtzentrale.

Das letzte Jahrhundert hat Kirkcaldy Reichtum, aber auch viel Armut beschert. Industrien kamen und gingen und selbst zu Blütezeiten der Linol-, Textil-, Schiffs- und Bergbauindustrie war das Leiden groß. Im städtischen Museum hängen alte schwarz-weiß Bilder von streikenden Männern mit elenden Blicken. Arbeitende Kinder sind zu sehen. Bis zu zwölf Stunden täglich gingen sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ans Tagwerk.

Ganz so schlimm war es nicht, als John Gilmour in den 80er Jahren in Kirkcaldy aufwuchs. Aber selbst der 32-Jährige erinnert sich an Schlange stehen in der Suppenküche. „Mein Vater war im Bergbau beschäftigt und ging immer wieder streiken. In diesen Zeiten hatte meine Mutter für meine Schwester und mich nichts zu essen“, berichtet der Grafik Designer.

Zweierlei ist John Gilmour aus dieser Zeit geblieben: ein tiefes Misstrauen, Abscheu gar gegenüber den Tories. Und ein Verantwortungsgefühl für seine Heimat. Obwohl der Kirkcaldier sich nach wie vor mit den Grundwerten von Labour identifiziert, ließ er bei den letzten Westminster-Wahlen von der Partei ab. „Die Partei ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt und bietet keine Lösungen“, sagt er.

Gilmour sieht, wie junge Leute um ihn herum straucheln. Die Arbeitslosigkeit in Kirkcaldy liegt bei zehn Prozent. „Die Menschen brauchen Aussichten“, resümiert Gilmour, „die Zeit ist reif für einen politischen Wandel.“ Während er diesen ersehnten Aufbruch zunächst bei den Liberal Demokraten zu erkennen glaubte und bei der letzten Westminster-Wahl auf Nick Clegg und sein Team setzte, fühlte er sich nach der Wahl schlicht betrogen.

Die SNP habe ihn schließlich überzeugt: mit ihren positiven Ausblicken auf die Zukunft, aber auch mit ihrer bisherigen Politik in Holyrood. Genau das ist es, was SNP-Neu-Abgeordneter David Torrance in seinem Wahlkampf zu vermitteln versucht hat: Erbrachte Leistung, aber auch Hoffnung. Als wolle er diese Aussage versinnbildlichen nippt er an einer Dose Irn Bru, dem schottischsten aller schottischen Getränke, einem knallorangenen Softdrink, bekannt auch als Wundermittel gegen Kater.

Torrance träumt davon, die heimische Getränkeindustrie auszubauen und weit mehr zu exportieren als bisher. Noch andere Visionen schweben ihm vor. Neue Jobs im Bereich der Erneuerbaren Energien zum Beispiel. „In Schottland haben wir 25 Prozent von Europas Wind- und Wellenenergie“, sagt Torrance, „das müssen wir nutzen.“ Nicht nur im produzierenden Gewerbe, sondern auch am anderen Ende, in der Technik und Forschung ,will der SNP-Politiker mitmischen.

Ob die SNP umsetzen kann, was sie verspricht, bleibt abzuwarten. Politikwissenschaftler John Curtice sieht genau hier den Knackpunkt: „Will die SNP ihre geplante Volksabstimmung zum Thema Unabhängigkeit gewinnen, muss sie durch ihre Politik überzeugen und ein stimmiges Wirtschaftskonzept vorlegen“, so Curtice, „davon ist sie noch weit entfernt.“

Gegenwärtigen Umfragen zufolge, ist die Mehrheit Schottlands gegen eine Unabhängigkeit. Aber die Frage ist auch, welche Unabhängigkeit? Plädiert die SNP für eine komplette Loslösung vom Königreich? In ersten Reaktionen nach der Wahl, bringt sie die Sprache auf eine gestutzte Version. Dabei sollen die Außen- und Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit England geteilt werden. Ob die vielen SNP-Fundis, mit dessen Wahl niemand gerechnet hatte, ihrem Chef Alex Salmond diesbezüglich im Parlament Probleme bereiten, bleibt abzuwarten.

Gelungen ist es Salmond immerhin, Westminster wach zu rütteln. Dass es in Schottland jetzt zur Sache geht, hat die Regierung in London begriffen. Anstatt, wie zuvor üblich, das Gerede von Unabhängigkeit lässig abzutun, hat Premier David Cameron sofort angekündigt, er werde dem von der SNP angekündigtem Volksentscheid nichts entgegen stellen.

„Westminster hat verstanden, dass die Lage ernst ist“, sagt Professor Curtice. Genervte Stimmen in England ermutigen Cameron, Schottland doch endlich gehen zu lassen. Auf diese Weise würde er auf einen Schlag 58 Abgeordnete aus fremden Lagern los, denn aus Schottland habe es die letzten Jahre nur ein konservativer Abgeordneter nach Westminster geschafft.

Aber John Curtice lenkt ein: „Es wären auch auf einen Schlag fünf Millionen Einwohner weniger. Wer möchte schon ein Land regieren, das zerfällt? Welche Konsequenzen hätte das für die Anzahl unserer Sitze im Brüsseler Parlament? Unseren Sitz im Sicherheitsrat?“

Warum es dem Vereinigten Königreich in seiner mehr als 300-jährigen Geschichte nicht gelungen ist, zu einem Ganzen zu verschmelzen, ist unklar. Nicht einmal ein gemeinsames Fußballteam ist aus der Union hervorgegangen. Das von einem schottischen Designer für die letzte Fußballweltmeisterschaft entworfene T-Shirt mit dem Slogan „ABE – Anyone But England“ sorgte in Schottland zwar für Begeisterung, südlich der Grenze jedoch für Aufruhr.

Andersrum erfährt man Diskriminierung, wenn man mit schottischen Banknoten in England unterwegs ist. Nicht die Queen, sondern Lord Ilay, Mitbegründer der Royal Bank of Scotland im 18. Jahrhundert, ziert die Scheine. Es kann vorkommen, dass der schottische Pound Sterling in England nicht akzeptiert wird.

Dass das Miteinander der ungleichen Länder durchaus Früchte trägt, das wissen sie in Kirkcaldy nur zu gut. Adam Smith, Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre und berühmtester Sohn der Stadt, kam nur wenige Jahre nach der Gründung des Vereinigten Königreichs zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf die Welt. Er ging zum Studium nach England und kehrte zurück nach Kirkcaldy, um sein Meisterwerk, den „Reichtum der Nationen“, zu verfassen.

An der High Street 220, wo Adam vor mehreren hunderten Jahren lebte und schrieb, sitzt heute Greener Kirkcaldy, eine Organisation, die bemüht ist, die Leute von einer umweltfreundlichen Lebensweise zu überzeugen. Kein leichtes Unterfangen. „Die Briten mögen keine Veränderungen,“ stellt ihr Chef David Hansen fest. Wenn das stimmt, dann betreten sie hier in Kirkcaldy und in Schottland wagemutig politisches Neuland.

Ergebnisse: 69 von 129 Sitzen ergatterte die SNP in der Holyrood-Wahl und errang damit ein Plus von 22 Sitzen gegenüber den letzten Wahlen. Die größten Einbußen verbuchten die Liberal Demokraten mit elf verlorenen Plätzen und Labour mit neun. Den Liberalen bleiben nur noch fünf, Labour 37 Sitze im Parlament von Holyrood.