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Wo die Frau noch Dame sein darf

Wo die Frau noch Dame sein darf

Sie gilt als Relikt aus alten Zeiten, doch die Speisekarte ohne Preise für die Dame gibt es noch. Aber wo? Eine Spurensuche.

„Die Dame braucht noch einen Moment“. Den diskreten Wink des Gastes versteht der Chef de Rang sofort. Mit leisem Lächeln und einer angedeuteten Verbeugung zieht er sich formvollendet hinter die Kulissen des Sternerestaurants zurück, in das der galante Gastgeber besagte Dame heute ausführt. Ihr gehen tausend Gedanken durch den Kopf, während sie denselben immer tiefer hinter der Speisekarte verbirgt. Denn diese verheißt nicht nur kulinarischen Genuss auf höchstem Niveau, sondern auch eine entsprechend hohe Rechnung. Und die, das hat ihr Begleiter unmissverständlich klar gemacht, übernimmt heute er.

So klein die Preise auch gedruckt sein mögen, so viele Fragen wirft ihre Höhe bei der Eingeladenen auf: Wirke ich anspruchsvoll oder eher anmaßend, wenn ich den Hummer bestelle? Ist es ungemütlich oder unkonventionell, wenn ich wenig Hunger vortäusche und eine Vorspeise als Hauptgang bestelle? Wie viel einfacher wäre es für sie, wenn es noch eine Damenkarte gäbe. Jene Karte, die Speisen, aber keine Preise aufführt und die noch im vergangenen Jahrhundert weiblichen Gästen hochklassiger Restaurants ganz selbstverständlich gereicht wurde.

Während der Chef de Rang noch immer geduldig auf die Bestellung wartet, überlegt die unentschlossene Dame schon, ob sie als junge und natürlich emanzipierte Frau diesem genderpolitisch ganz und gar nicht korrekten Gastronomie-Relikt überhaupt nachtrauern darf – und ob es die Damenkarte in deutschen Spitzenrestaurants eigentlich noch gibt.

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