Ethan Quaißer will Altenpfleger werden. Für den 18-Jährigen sein Traumberuf. Die taz hat ihn in der Berufsfachschule und beim Arbeiten begleitet.
Alles, was von Elfriede Wagners* Leben noch übrig ist, steht auf zwei DIN-A4-Seiten. Dort heißt es: „Frau W. spricht von sich aus nicht. Antwortet auf einfache Fragen mit Ja, Nein oder Ach. Es lässt sich nicht ermitteln, was sie noch weiß. Sie wirkt sehr freundlich und zugewandt. Wenn ihr etwas nicht gefällt, macht sie das durch Mimik und Gestik deutlich. Essen und trinken kann sie nicht mehr selbstständig. Sie hat eine gesetzliche Betreuerin für alle Bereiche. Sie hat anscheinend keine Angehörigen. Sie kann ihren Haushalt nicht mehr alleine führen."
Frau Wagner ist dement. Sie ist 92 Jahre alt und lebt in Oberschöneweide, Bezirk Treptow-Köpenick. Die Zehnzimmerwohnung mit dem Linoleum in Beige und den gelben Wänden, dem großen Wohnzimmer und der offenen Küche teilt sie sich mit sieben Frauen und zwei Männern. Auch sie sind alt und dement, auch in ihren Akten steht, was sie noch können und was nicht. Es ist nicht mehr viel.
Die Bewohner sind darauf angewiesen, dass andere Menschen sie aufwecken, bekochen, waschen, hochheben, absetzen, herumfahren. Und manchmal auch einfach nur ihnen gut zureden, mit ihnen „Mensch ärgere Dich nicht" spielen oder sie in den Arm nehmen.
Rund 116.000 pflegebedürftige Menschen gibt es derzeit in Berlin. In zwölf Jahren werden es laut Landesamt für Gesundheit und Soziales 170.000 sein. Darauf ist hier niemand vorbereitet. 8.000 Pflegekräfte fehlen bis 2030 allein in der Hauptstadt, 35.000 werden es in ganz Deutschland sein.
Was diese Zahlen praktisch bedeuten, erklärte ein 21-jähriger Auszubildender im September 2017 in einer Wahlkampfsendung mit Angela Merkel so anschaulich, dass es danach niemand mehr ignorieren konnte: „Menschen, die dieses Land aufgebaut haben, liegen stundenlang in ihren Ausscheidungen, weil es an Pflegepersonal mangelt", sagte er.
Seit diesem Auftritt weiß es auch der Letzte: In Deutschland herrscht Pflegenotstand. Jeder kennt die Grafik der tannenbaumförmigen Alterspyramide, deren stärkster Umfang sich immer mehr nach oben verschiebt. Jeder weiß vom demografischen Wandel. Das Pflegesystem aber kann nicht darauf reagieren. Die Arbeitsbelastung in den Heimen ist zu groß, die Bezahlung zu niedrig.
Es gibt Pflegeheime, in denen müssen sich zwei Pflegekräfte um 50 alte Menschen kümmern. Es gibt meist nur den Mindest-, oft keinen Tariflohn. Es gibt zu wenig Vollzeitstellen und zu wenige Fachkräfte. Altenpfleger mit Abschluss werden gesucht, trotzdem will den Beruf keiner machen. Die Zahl der Berufsanfänger ist in den letzten Jahren zwar wieder gestiegen. Groß genug, dass der Bedarf gedeckt wäre, ist sie aber noch lange nicht.
Im zweiten Stock eines heruntergekommenen Neubaus in der Axel-Springer-Straße in Kreuzberg scheinen diese Zahlen Anfang April niemanden zu verunsichern. Es ist der erste Schultag für den Kurs AB18, eine Klasse von 35 Schülern an der VIA Berufsfachschule für Altenpflege. Alle sind hier, weil sie AltenpflegerInnen werden wollen. Der Jüngste ist Ethan Quaißer: Adidas-Jogginghose, Nike-Schuhe, silberne Ohrringe, ein Kreuz mit Flügeln auf dem Nacken tätowiert. Mit seinen 18 Jahren ist er so jung, dass manche Mitschüler seine Eltern sein könnten.
* Namen geändert