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Solidarität kennt keine Grenzen

Zwischen Bachelor-Abschluss und Beginn des Masterstudiums hat die Marburger Politologin Katharina Lipowsky einen Aufenthalt bei „Emmaus" in Marseilles eingeschoben. Für die OP stellt sie das soziale Projekt vor

Marseille / Marburg. Drei Minuten vor zwei. Einige dutzend Menschen stehen dicht gedrängt vor der hohen Metallpforte und warten. Es ist heiß und trocken, einer der letzten sommerlichen Tage in Marseille. Eine der Wartenden steht in dieser Woche schon das dritte Mal am Eingang. Sie ist arbeitslos, alleinerziehende Mutter von drei Kindern und gerade zurück in ihre Heimatstadt Marseille gezogen. Für das neue Zuhause will sie sich hier das Fehlende zusammensuchen.

Emmaus Pointe Rouge ist dafür genau die richtige Adresse, hier findet man mit etwas Glück tatsächlich alles: Auf dem Gelände der seit 1956 bestehenden Kommune befinden sich neben den beiden Wohnhäusern der Compagnons, so nennen sich die Bewohner der Emmaus-Kommunen, jegliche Gebrauchtwaren von Möbeln über Kleidung bis hin zu Büchern. Das Gelände ähnelt einem großen Basar, in dem die Compagnons kleine Läden oder Stände in Zelten und einer alten Lagerhalle eingerichtet haben.

Das hier Verkaufte setzt sich ausschließlich aus Spenden zusammen, die Tag für Tag bei Emmaus abgegeben werden. Die Preise sind extrem niedrig, Sozialhilfeempfänger erhalten zusätzlich einen Rabatt. Vieles wird auch an Bedürftige verschenkt. Durch die restlichen Einnahmen finanziert sich die Kommune, und ein großer Teil fließt in soziale Projekte.

Die Bewegung Emmaüs entstand in Frankreich durch den katholischen Priester l'Abbé Pierre, der 1949 die erste Emmaus-Kommune in Neuilly-Plaisance öffnete. Nachdem die Wohnungsnot in vielen Städten Frankreichs Mitte der fünfziger Jahre extrem angestiegen war, schaltete l'Abbé Pierre 1954 übers Radio einen Aufruf zur Solidarität für Menschen in Wohnungsnot.

Durch den nationalen Appell erfuhr die Bewegung einen enormen Auftrieb, und in immer mehr französischen Städten wurden der Bewegung Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Heute wird Emmaus durch einen internationalen Dachverband organisiert und leistet in 36 Ländern Hilfe zur Armutsbekämpfung.

Von seiner katholischen Gründungsprägung hat sich Emmaus weitestgehend gelöst. Die Kommunen verwalten sich selbstständig und sind dadurch sehr individuell. In Marseille ist die Kommune multikulturell: Die 50 Compagnons stammen aus mehr als 10 verschiedenen Ländern, unter den Compagnons sind sowohl Muslime als auch Christen.

Die Gründe für das Leben in der Kommune sind verschieden. Generell wird in Marseille jeder Bedürftige aufgenommen, der bereit ist zu arbeiten und an einem Gewalt- und drogenfreien Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.

Die Uhr schlägt zwei, es ist soweit. Emmaus Pointe Rouge Marseille öffnet seine Tore, und die Menschen strömen auf das Gelände. Der Stand des 28- jährigen Landy aus Madagaskar wird in Windeseile gestürmt. Für die nächsten sechs Stunden heißt es die Stellung halten und um Preise feilschen.

Im Gegensatz zu den anderen Compagnons, von denen viele schon ihr halbes Leben in der Kommune wohnen, ist Landy erst vor einem Monat dazugestoßen. Vor drei Jahren kam er mit einem Vertrag der Fremdenlegion in der Tasche nach Frankreich. Doch nach sechs Monaten hielt er dem Druck der Ausbildung nicht mehr Stand. Von einem Tag auf den anderen wurde er auf die Straße gesetzt. Zwei Monate trieb er sich im Winter auf den Straßen Marseilles herum. Er schlief in Tunnels, unter Brücken, immer in Angst von der Polizei erwischt und aufgrund seiner ungültigen Papiere ausgewiesen zu werden. „Ich war wie gelähmt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Kein Geld, um in die Heimat zu fliegen, dort ein Haufen Schulden, die ich für den Flug nach Frankreich auf mich genommen habe."

Bei einer Essensausgabe für Obdachlose kam er ins Gespräch mit einer Freiwilligen von Emmaus, die ihm von der Organisation erzählte. „Es war wie ein Wachrütteln für mich: ein Ausweg aus dem Loch, in dem ich feststeckte". Die ersten anderthalb Jahre verbrachte er in einer Emmaus-Kommune in Arles, seit einem Monat hat er die Zelte in Marseille aufgeschlagen.

Emmaus ist Landys Chance, ein Visum zu bekommen und dauerhaft in Frankreich zu bleiben. Zweimal wurde er schon von der Polizei festgenommen. Emmaus hat ihn wieder aus dem Abschiebungsknast herausgeholt. Emmaus setzt sich für Menschen ohne Papiere ein und hilft ihnen weiter, in Frankreich zu bleiben.

Kurz bevor sich die Tore der Kommune für heute schließen, lauft die Frau vom Eingang strahlend mit einer neu erworbenen Kommode vorbei: "Emmaus je t'aime" - „Emmaus, ich liebe dich!", ruft sie Landy zu.

von Katharina Lipowsky

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