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"Wir sind der Osten": Im Interview über Jammer-Ossis, Besserwessis - und warum Merkels Kanzlerschaft gar nichts beweist


Christian Bollert läuft durch Leipzig - durch das Telefon hört man das Rauschen des Verkehrs und die für Leipzig typischen lauten Straßenbahnen. Christian ist dageblieben. Zwar nicht in seiner Heimatstadt in der Nähe von Potsdam, dafür aber im Osten. Dem Teil Deutschlands, über den es wohl die meisten Vorurteile gibt - außer Bayern vielleicht?


Die Ossis sind doch alle schlecht gelaunt, Handwerker und wählen AfD - oder? Falsch. Das zeigt spätestens die Initiative "Wir sind der Osten", die Christian mitgegründet hat.


Ostdeutsches Phänomen

Die Kernidee: Auf einer Website erzählen verschiedene Menschen, die aus dem Osten kommen, die dorthin, oder dort weggezogen sind ihre Geschichten. Dadurch steht ein Portfolio, das so divers ist, wie die Realität: Ein international bekannter Spitzenkoch, der seine Ost-Heimat vermisst? Geschichten wie diese verblüffen. Denn in das häufig noch vorherrschende Bild vom Osten will ein Starkoch nicht so recht passen. Mehr als 400 Personen haben ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Ansichten schon auf der Plattform geteilt. Und es zeigt sich: Allein zwischen Rostock und Leipzig gibt es himmelweite Unterschiede.


Was die Menschen aus dem Osten trotz aller Diversität vereint und vom Westen unterscheidet hat uns Christian im NOIZZ-Interview verraten - und zwar aus knallharter, eigener Erfahrung.


Interview mit Christian Bollert

 NOIZZ: Was ist das bescheuertste Vorurteil, das du je über Ostdeutsche gehört hast?

Christian Bollert: Das aus meiner Sicht absurdeste Vorurteil ist das des Jammer-Ossis, der immer nur meckert, nie zufrieden ist und immer nur guckt, was die anderen haben. Das hat mit meiner Lebenswirklichkeit wirklich überhaupt nichts zu tun. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum sich das so hartnäckig hält.


Welches Vorurteil hast du gegenüber Wessis?

C. B.: Ich versuche natürlich, möglichst wenige Vorurteile gegenüber jeglicher gesellschaftlicher Gruppe zu haben. Ich habe aber ein Vorurteil, dass ich hin und wieder bestätigt sehe. Nämlich, dass die Wiedervereinigung für viele Westdeutsche eher ein Fernsehereignis was. Es hat ihren Lebensalltag nicht wirklich verändert. Deshalb haben sich viele von ihnen nicht ernsthaft mit den Folgen auseinandergesetzt. Generalisieren kann man das nicht, aber eine gewisse Ignoranz dem Osten gegenüber ist auf jeden Fall vorhanden. Von daher finde ich manchmal, dass das Vorurteil des „Besserwessis" zutrifft. Das rührt nicht zuletzt auch daher, dass viele Westdeutsche noch nie die ostdeutschen Bundesländer besucht haben - außer Berlin.


Hast du Lieblingsgeschichten auf der Plattform, die dich besonders bewegt haben?

C. B.:Es sind immer Neue, die ich besonders spannend finde. Aber ich kann ja mal eine Lebensgeschichte exemplarisch herausgreifen. Da geht es um jemanden, der in der Altmark lebt und sich für seine Stadt und seine Region engagiert. Er ist über 70 und denkt total in die Zukunft: Genau das Gegenteil vom Klischee des Jammer-Ossis. Und dann noch jemand, der ursprünglich aus Magdeburg kommt, jetzt aber als Spitzenkoch in Tokio lebt und trotzdem noch sehr an seiner Heimat hängt. Das sind nur zwei der sehr diversen Geschichten auf unserer Seite. Wenn man fünf solcher Stories hintereinander liest, merkt man auch: Die Person aus Potsdam schildert die Neunziger Jahre ganz anders als die Person aus Rostock. Das macht für mich den Reiz aus.


Das erste Treffen eurer Initiative hast du als Ossi-Blinddate bezeichnet: Ein Treffen mit lauter Menschen, die du teilweise schon kanntest, aber noch nicht wusstest, dass sie ebenfalls aus dem Osten kommen. Fühltest du dich ihnen näher, als du diese Gemeinsamkeit festgestellt hast?

C. B.:Es gibt Erfahrungen, die alle Ostdeutschen gemacht haben, wenn auch in unterschiedlicher Form und die uns verbinden: Die Ereignisse nach dem Mauerfall und die frühen 1990er. Das war eine besondere Zeit, egal wo in den ostdeutschen Bundesländern. An diesen Erfahrungsraum kann man ganz leicht anknüpfen. Man kann jemanden aus Frankfurt/Oder oder Potsdam fragen 'Wie war das bei euch 1990 mit den Nazis?'. Das kann ich jemanden aus München oder Düsseldorf nicht fragen. Oder 'Haben deine Eltern auch nach der Wiedervereinigung den Job verloren?', 'Hast du auch eine Bewerbung für deine Eltern geschrieben?': Es gibt einfach Dinge, von denen man weiß: Das ist anderen Ostdeutschen in meinem Alter sehr wahrscheinlich auch so ergangen.


Ihr nennt euch "Wir sind der Osten" und du sprichst von gemeinsamen Erfahrungen, gleichzeitig betonst du aber auch immer wieder, dass es „den Osten" nicht gibt. Was stimmt den nun?

C. B.:Was uns wirklich als "Osten" vereint, ist die zentrale Erfahrung des weitestgehenden Zusammenbruchs in den Jahren nach dem Mauerfall. Von Politik über Wirtschaft bis hin zum Sozialleben. Fast jeder im Osten kennt jemanden mit krassen Geschichten aus der Zeit: Menschen, die aus ihren Häusern geworfen wurden, weil vormalige Besitzer auftauchten und das Haus zurückforderten. Menschen die von einem Tag auf den anderen ihren Job verloren. Oder die von windigen Geschäftemachern mit unattraktiven Lebensversicherungen oder überteuerten Gebrauchtwagen über den Tisch gezogen wurden.


Der Osten ist aber keine homogene Masse. Im Gegenteil: Es gibt extrem große regionale Unterschiede. Eine gemeinsame Identität existiert in meinen Augen nicht.


Welche Erfahrungen hast du in der Wendezeit gemacht?

C. B.: Ich war damals erst acht Jahre alt, aber zwei Sachen haben sich mir besonders eingeprägt. Am Tag, nachdem die Mauer gefallen war, war die Hälfte der Klasse nicht in der Schule. Viele Eltern fuhren mit ihren Kindern einfach in den Westen kümmerten sich um so etwas wie Schulpflicht gar nicht mehr. Ich saß an dem Tag als einer der wenigen im Unterricht.


Ein paar Wochen wurde ich von ein paar älteren Schülern angeraunzt, weil ich immer noch eine Ledertasche hatte. Alle anderen hatten nämlich auf einmal schreiend bunte Kinderrucksäcke aus dem Westen.


Ich kann mich außerdem daran erinnern, dass ich in den ersten Monaten, vielleicht sogar Jahren, mit meiner Mutter mit dem Fahrrad zum Einkaufen in den Westen gefahren bin, weil es im Osten noch keine Supermärkte gab. Dort kauften wir dann die tollen Westprodukte: Schokocreme, Ketchup, Müsli, Joghurt - so viel wir tragen konnten.


Was ich mitbekam, war, dass meine Eltern sich stark umorientieren mussten und neue Arbeitgeber brauchten. Mein Vater hat dann in den 1990er Jahren den Mut gehabt, sich selbstständig zu machen, meine Mutter ist in ihrem gelernten Beruf geblieben, musste aber mit ihren Kolleginnen mehr als zehn Jahre lang um die Anerkennung ihrer Ausbildung kämpfen, weil es die zwar in der DDR gegeben hatte, aber in der BRD bis 1990 unbekannt war. Dementsprechend wurde sie auch schlechter bezahlt. Wegen all dieser schwierigen Umstände waren meine Eltern - aber auch die meiner Freunde - stark mit sich selbst beschäftigt.


Hast du dich in dieser Zeit verloren gefühlt?

C. B.: Das würde ich so nicht sagen. Wir Kinder und Jugendlichen haben einfach noch mehr als sonst in unseren Cliquen abgehangen. Unsere Probleme haben wir gegenseitig gelöst, weil unsere Eltern in der Zeit keine große Rolle spielten. Dass wir Anfang der 90er wirklich vor Nazis wegrennen mussten, haben viele Eltern vermutlich nicht mal richtig mitbekommen.


Also hast du diese Zeit negativ in Erinnerung?

C. B.: Schön war es natürlich nicht, vor Nazis wegzurennen. Wenn ein tiefergelegter Golf mit vier Leuten an uns vorbeigefahren ist, sind wir alle in Alarmstellung gewesen.


Damals mussten wir langhaarigen Jugendlichen damit rechnen, dass die uns auf die Fresse geben. Insgesamt war es aber auch eine total spannende Zeit, weil auf einmal so viel möglich war. Für Leute, die damals schon 18 waren, muss das eine wahnsinnig intensive Zeit gewesen sein - für mich war es eher spannend, Micky Maus oder die Bravo zu lesen. Ende der 90er fand ich es besonders spannend, dass wir Partys in alten Fabrikgebäuden veranstalten konnten: Räume zu gestalten, die noch nicht fertig sind, finde ich faszinierend - das war ein großes Privileg damals.


Die Faszination habe ich mir bis heute erhalten: Deshalb lebe ich auch so gerne in Leipzig: Weil auch hier noch nicht alles fertig ist. In vielen westdeutschen Städten stört mich, dass es oft keine Gestaltungsfreiräume mehr gibt. Die Bewegungsfreiheit, die Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten - wenn auch mit weniger Mitteln - finde ich am Osten wirklich toll.


Gibt es noch weitere Dinge, die du für dich aus dieser Zeit mitgenommen hast?

C. B.: Ja, und zwar die Einstellung, dass Geld bei der Jobwahl für mich zweitrangig ist. Wichtig ist mir, dass ich etwas mache, woran ich persönlich glaube. Geld war nie mein Antrieb. Weil ich durch die Friedliche Revolution und ihre Auswirkungen auf meine Familie gelernt habe, wie schnell Geld und Güter ihren Wert verlieren können. Und wie viel wichtiger es dadurch ist, dass man seine Arbeit nicht nur für Geld erledigt, sondern für etwas Höheres: Die eigene Leidenschaft und den Willen, die Gesellschaft ein Stück voranzubringen. In den ostdeutschen Bundesländern treffe ich auf viele Menschen mit dieser Einstellung.


Seid ihr mit der Idee für die Initiative gleich auf offene Ohren gestoßen oder gab es auch Menschen, die gesagt haben, dass sie überflüssig sei?

C. B.: Ja, es gibt tatsächlich Leute, die uns kritisieren. Die sagen: ‚Ich habe keine Lust auf eine Marketing-Initiative für Ostdeutschland.' Was wir ja aber auch nicht sind. Manche der 50- bis 70-Jährigen sagen außerdem: ‚Das haben wir doch in den 90ern schon mal diskutiert, das Thema ist doch durch.' Aber wir sind eine neue Generation, die nochmal andere Fragen stellt. Dass wir jetzt einen größeren Abstand zu den damaligen Ereignissen haben, ist wertvoll und nicht etwa von Nachteil.


Welche Fragen sind es denn, die damals nicht gestellt wurden und die ihr jetzt stellt?

C. B.: Anfang der 90er ging es - zurecht - noch viel mehr um die Frage nach Stasi-Unrecht, SED-Vergangenheit, die Frage, ob die DDR eine Diktatur war. Inzwischen geht es in der Aufarbeitung viel mehr um persönliche Aspekte, Biographien stehen mehr im Mittelpunkt. Wir fragen nach, wie Menschen die Ereignisse persönlich erlebt haben. Geschichte wird individueller erzählt. Ich finde, dieser Aspekt ist damals zu kurz gekommen. Die Ostdeutschen mussten nach dem Mauerfall erst mal ihr völlig durcheinandergewürfeltes Leben auf die Reihe kriegen: Deshalb wurden die Debatten damals nicht von ihnen selbst, sondern in den Medien über sie geführt.


Was hältst du von dem Argument, dass Angela Merkel der lebende Beweis dafür sei, dass Ostdeutsche nicht benachteiligt werden?

C. B.: Sie ist die berühmte Ausnahme von der Regel. Wenn man in den Statistiken schaut, wie viele Politikerinnen und Politiker mit ostdeutschen Biographien im Bundestag und den Minister-Ämtern sitzen, dann wird man ganz schnell feststellen, dass das Saarland einen deutlich größeren Anteil stellt, als die ostdeutschen Bundesländer. Diese sind deutlich unterrepräsentiert und strukturell benachteiligt. Das zieht sich bis in die Vorstände der großen Parteien. Denn die ostdeutschen Landesverbände spielen oft eine sehr geringe Rolle, wenn es um wichtige Entscheidungen geht.


Unter anderem das wollt ihr mit "Wir sind der Osten" ja ändern. Hast du das Gefühl, ihr bewegt mit eurer Initiative etwas?

C. B.: Ich glaube, wir haben schon viel bewegt. Allein die Resonanz auf unsere Initiative ist überwältigend. Ich hätte nicht gedacht, dass wir in so kurzer Zeit so viele Debatten anstoßen und so viele Menschen erreichen würden. Auch Politikerinnen und Politiker haben auf das Projekt reagiert und nehmen unser Anliegen sehr ernst. Und wir werden nicht nur in Deutschland diskutiert. Weltweit haben Medien zum Anlass des Mauerfall- oder des Wiedervereinigungs-Jubiläums über uns berichtet: Finnland, Australien, Niederlande, Frankreich... Die Liste ist wirklich lang. Wenn wir unseren Teil dazu beitragen, dass auch in Familien darüber geredet wird, was damals passiert ist und wie die Eltern alles erlebten, dann haben wir wirklich viel erreicht.


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