1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Self-Care im Aktivismus: Im NOIZZ-Interview über das endlich gebrochene Tabu

Wer sich um andere sorgt, muss selbstlos sein. An sich denken? Niemals! Stattdessen lieber Aufopferung, bis gar nichts mehr geht. Und wenn es sich ein*e Aktivist*in doch mal gutgehen lässt, hagelt es Kritik: War doch alles nur Show? Dieser toxische Teufelskreis, mit dem sich Aktivis*innen lange konfrontiert sahen, scheint endlich gebrochen.

Immer häufiger wird Self-Care im Aktivismus zum Thema von Workshops für Aktivist*innen. Einen dieser Workshops gibt Kalle Hümpfner. Kalle arbeitet seit 2016 bei dem queeren Kollektiv " life's a beach" zu Themen rund um Self-Care, Gefühle und Kommunikation. Kalle lebt in Berlin, verortet sich als nicht-binär trans und setzt sich für die Rechte von trans und nicht-binären Personen ein, sei es in der Beratung bei TransInterQueer oder in der politischen Interessensvertretung beim Bundesverband Trans*.

Im NOIZZ-Interview haben wir Kalle gefragt, wie genau man sich diese Self-Care eigentlich konkret vorstellen kann - und warum das Interesse daran so plötzlich gestiegen ist.


NOIZZ-Interview mit Kalle Hümpfner NOIZZ:

Self-Care im Aktivismus - ist das ein neuer Trend, den es früher nicht gegeben hat?

Kalle Hümpfner:Nein, es ist kein neuer Trend. Bereits in den 1980er Jahren hat zum Beispiel die Schwarze Aktivistin und Autorin Audre Lorde, die Wichtigkeit von Self-Care unterstrichen. Sie erklärte, dass gerade für sie als Schwarze lesbische Frau Self-Care auch immer ein Akt des Widerstands ist, da sie in dieser Gesellschaft an den Rand gedrängt wird. Diese Idee, Self-Care ernstzunehmen und als einen wichtigen Teil von Aktivismus zu begreifen, stammt also aus antirassistisch-feministisch-queeren Bewegungen. Heute wird in Deutschland auch viel in klimaaktivistischen Zusammenhängen über Self-Care gesprochen. Unter dem Schlagwort "Nachhaltiger Aktivismus" wird vieles verhandelt, was bereits seit Jahrzehnten in anderen Kontexten diskutiert wird.


Warum kommt das Thema gerade jetzt auf?

Kalle: Ich nehme auch wahr, dass das Interesse an Self-Care im Aktivismus in den vergangenen Monaten gestiegen ist. Bei "life's a beach", wo ich Workshops zu diesem Thema anbiete, erreichen mich im Moment sehr viele Anfragen für Self-Care-Trainings. Einerseits glaube ich, dass in der Klimabewegung wie zum Beispiel bei Fridays for Future oder Ende Gelände seit Jahren das Bewusstsein für dieses Thema wächst. Es wird einfach immer mehr Aktivist*innen klar, dass die Veränderungen, für die sie sich einsetzen, nicht in einem kurzen Sprint, sondern eher in einem zähen Marathon zu erreichen sind. Gleichzeitig glaube ich, dass auch die Pandemie viele Aktivist*innen vor neue, teils sehr persönliche Herausforderungen stellt. Gut für sich selbst sorgen können, aber auch solidarisch und unterstützend miteinander umgehen, sind wichtige Skills für die kommenden Monate. Ich bin froh, dass sich mehr Menschen damit auseinandersetzen wollen.


Was genau kann man sich unter Self-Care im Aktivismus überhaupt vorstellen?

Kalle: Zuerst brauchen wir eine Idee, was mit Self-Care überhaupt gemeint ist. Ich sage gern, dass es keine allgemeinen Rezepte für Self-Care gibt und dass jede Person am besten für sich selbst herausfinden kann, was gut tut. Ganz klassisch denken viele Personen bei Self-Care an Entspannungsübung, eine Auszeit in der Badewanne oder Yoga. Klar sind solche Ruhemomente wichtig, in denen ich nichts leiste, in denen ich durchatme und entspanne. Self-Care bedeutet aber auch, dass ich meine Grundbedürfnisse ernstnehme. Schlafe ich genug? Trinke ich ausreichend und regelmäßig? Mache ich Pausen bei der Arbeit? Koche ich mir hin und wieder ein leckeres Essen? All diese Fragen kann ich mir stellen, um zu schauen, wie ich gerade für mich selbst sorge. Und diese Fragen sind für alle Personen interessant, egal ob Aktivist*in oder nicht.


Wie kamst du persönlich zu dem Thema? Hast du deine Gesundheit sogar schon einmal selbst durch Aktivismus aufs Spiel gesetzt?

Kalle: Tatsächlich bin ich auf das Thema Self-Care gestoßen, nachdem ich mich aus sämtlichen aktivistischen Gruppen in meinem Leben gezogen hatte. Ich war erschöpft, weil ich meine gesamte Freizeit dafür eingesetzt hatte, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. In der Zeit als Aktivist*in hatte ich meine Hobbys vernachlässigt. Jeden Abend hatte ich ein anderes Gruppentreffen. Am Wochenende war ich meistens auf Demos unterwegs. Ich merkte nun deutlich, dass ich keine Energie hatte, um in diesem Tempo weiterzumachen. Mitten in meinem Coming-out als trans* Person spürte ich zusätzlich, dass ich nicht so belastbar war wie gewohnt. Es dauerte dann zwei, drei Jahre, in denen ich langsam verschiedene Formen von Aktivismus ausprobierte. Mittlerweile würde ich sagen, dass ich recht gut darin geworden bin, für mich selbst zu sorgen und mich gleichzeitig für die Themen einzusetzen, die mir gerade am Herzen liegen. Aber ich lerne auch kontinuierlich weiter, und es gibt Phasen, in denen es besser oder schlechter läuft.


Wie betreibst du selbst Self-Care?

Kalle: Wie bereits erzählt, fängt für mich Self-Care bei den Grundbedürfnissen an. Ausreichend Schlaf, leckeres Essen, regelmäßiges Trinken, Zeit für Bewegung oder Pausen sind die Bausteine für Self-Care im Alltag. Jenseits von diesen Basics ist mir wichtig, in welcher Haltung ich als Aktivist*in unterwegs bin. Setze ich mir realistische Ziele? Bin ich mit mir zufrieden, auch wenn ich im Lernen kleine Fehler mache? Gestehe ich mir hin und wieder zu, dass ich Auszeiten vom Aktivismus brauche, und erlaube mir, mich für einen Tag, eine Woche oder einen noch längeren Raum herauszuziehen? Wenn ich alle diese Fragen mit "Ja" beantworte, weiß ich für mich aktuell, dass ich auf einem guten Weg bin.


Was passiert, wenn Aktivist*innen keine Self-Care betreiben?

Kalle: Es ist natürlich möglich, dass Personen, die über Jahre die eigenen Grenzen nicht respektieren, die sich dauerhaft überfordert und überlastet fühlen und keinen Fortschritt durch ihr Engagement wahrnehmen, ausbrennen.

Aktivistischer Burn-out ist real.

Allerdings ist es schwer, eine gute Schätzung abzugeben, wie viele Personen davon betroffen sind. Meine Erfahrung ist, dass sich viele Aktivist*innen mit Burn-out zurückziehen und aus den aktivistischen Zusammenhängen verschwinden. Die verbleibenden Personen sind dann meist zu beschäftigt, die nächste Aktion oder Kampagne zu planen. Es findet keine Auseinandersetzung mit Fragen statt, wie ein Burn-out hätte verhindert werden können, was die Gruppe eventuell dazu beigetragen hat oder was die betroffene Person nun als Unterstützung braucht. Diese Fragen sind jedoch extrem wichtig, da wir insgesamt eine andere Form des Aktivismus brauchen, die achtsam mit unseren begrenzten persönlichen Ressourcen umgeht und langfristige Veränderung ermöglicht.


Gibt es Aktivist*innen, die besonders davon betroffen sind? Etwa Antirassismus-Aktivist*innen stärker als Umwelt-Aktivist*innen? Oder gibt es da keine Unterschiede?

Kalle: In den vergangenen Jahren habe ich mit Aktivist*innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammengearbeitet. Vieles, was mir in diesem Zusammenhang erzählt wurde, ähnelte sich. So sind die meisten ehrenamtlich aktiv, setzen sich hohe Ziele und der Zeitdruck ist meist immens. Dennoch würde ich sagen, dass es durchaus Unterschiede zwischen verschiedenen aktivistischen Strömungen geben kann.

"Es kann zum Beispiel besonders belastend oder in manchen Fällen auch retraumatisierend sein, sich gegen Diskriminierung einzusetzen, wenn ich diese Benachteiligung schon mein ganzes Leben im Alltag erfahre."

Das betrifft unter anderem Personen mit Rassismuserfahrung, die sich anti-rassistisch engagieren, oder queere Personen, die sich gegen LSBTIQ*-Feindlichkeit einbringen.


Du gibst Workshops zu dem Thema: Finden manche Leute das Thema albern oder freuen sich die meisten, dass es endlich ernstgenommen wird?

Bisher ist es mir noch nicht passiert, dass sich Personen über das Thema lustig gemacht haben. Meine Erfahrung ist, dass die Personen, die zu einem Workshop kommen, in der Regel Interesse an Self-Care mitbringen. Häufig habe ich erlebt, dass Teilnehmer*innen mir anschließend erzählt haben, dass sie erst durch den Workshop verstanden haben, wie wenig sie gerade auf sich selbst achten. Meist ist der Austausch sehr persönlich, und mein Eindruck ist, dass viele Personen sehr dankbar für diese Räume sind, in denen sie über Belastungen und Verletzlichkeiten sprechen können. Oft erhalte ich auch das Feedback, dass Personen nun wieder mehr Lust haben, sich zu engagieren.


Was können Aktivist*innen, konkret umsetzen, um Self-Care zu betreiben. Hast du da ein paar Übungen, Gedankenanstöße oder Praktiken parat, die du empfehlen kannst?

Kalle: Meine Empfehlung ist, klein anzufangen und sich ein bisschen mehr Self-Care in den Alltag zu holen. Ein Beispiel könnte sein, jeden Tag eine Viertelstunde spazieren zu gehen oder darauf zu achten, eine Stunde vor dem Schlafengehen das Handy beiseitezulegen. Wenn sich diese Gewohnheit etabliert hat, gibt es die Möglichkeit, eine weitere Self-Care-Gewohnheit einzuüben. So gibt es im Alltag Stück für Stück mehr Raum für Self-Care. Es geht nicht darum, besonders schnell besonders viel zu ändern, sondern sich langsam umzugewöhnen.

Self-Care ist kein Wettbewerb, in dem wir schnell sein müssen.

Alles, was wir brauchen, ist das Wissen, dass wir uns Zeit nehmen dürfen, um für uns selbst zu sorgen, auch wenn wir in einer Zeit der multiplen Krisen leben.

Zum Original