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So ist es, während Corona bei der "Nummer gegen Kummer" zu arbeiten

Liebeskummer, Stress mit der Familie oder sogar Missbrauchsfälle - wenn Nina Pirk den Telefonhörer abhebt, weiß sie nie, was sie im nächsten Moment erwartet. Kinder und Jugendliche schütten ihr seit sechs Jahren das Herz aus - oder erzählen ihr manchmal einfach nur Witze. Die 35-Jährige arbeitet als ehrenamtliche Beraterin beim Kinder- und Jugendtelefon der "Nummer gegen Kummer" und sagt: "Wegen Corona mussten wir unsere Beratungszeiten erweitern."

Im NOIZZ-Interview spricht sie über das Gefühl, nach einem tragischen Telefonat aufzulegen, Scherzanrufe - und warum die manchmal viel ernster sind, als gedacht.

NOIZZ: Seit der Corona-Quarantäne sind viele Familien auf sich allein gestellt und fühlen sich zunehmend überfordert. Wie viele Anrufe bekommt Ihr Team pro Tag?

Nina Pirk: Ganz schön viele. Wenn man all unsere Angebote mit einbezieht, zum Beispiel auch die Online-Beratung oder das Elterntelefon, sind es pro Tag ungefähr 300 Beratungen. Aktuell verzeichnen wir eine leichte Steigerung, besonders beim Elterntelefon und in der Chat-Beratung - zwischen 21 und 26 Prozent sind das im Vergleich zum Vormonat. Am Kinder- und Jugendtelefon ist das Anrufaufkommen aber grundsätzlich sehr hoch. Aber auch da merken wir, dass sich in der letzten Zeit schon viel um Corona dreht.

Welche neuen Themen werden seit Corona in den Telefonaten angesprochen?

N. P: Grundsätzlich muss man sagen, dass wir wirklich zu allen Themen ansprechbar sind. Durch die einfache Erreichbarkeit, Anonymität und Kostenfreiheit sind wir da auch häufig die erste Anlaufstelle. Bezüglich der Themen merken wir zum Beispiel am Elterntelefon, dass Probleme, die in anderer Intensität schon vorher bestanden haben, sich jetzt verschärfen. Überforderung im Alltag, die Aufgabe, alles unter einen Hut zu bringen, besonders die Herausforderung, plötzlich im Homeoffice zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder zu betreuen.

In den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen geht es zum Beispiel um Streit mit den Eltern, die Freunde werden vermisst, es gibt keine Struktur mehr im Tagesablauf. Manchmal sind es auch Probleme mit Schulaufgaben, die plötzlich alleine zu Hause erledigt werden müssen. Aber natürlich auch Langeweile und die Frage: "Was mache ich denn jetzt den ganzen Tag?" Es rufen auch junge Menschen an, deren Familiendurch die Krise existenziell bedrohtsind, zum Beispiel durch Jobverlust. Solche Unsicherheiten spüren Kinder und machen sich große Sorgen.

Wenn ich nun ein Problem habe und bei Ihnen anrufen möchte - wie kann ich mir den Ablauf eines solchen Telefonats vorstellen?

N. P: Ich persönlich gehe ans Telefon, indem ich sage: "Hallo, hier ist das Kinder- und Jugendtelefon von der Nummer gegen Kummer". Dann sage ich dem Anrufer, dass ich jetzt für ihn da bin und ihm zuhöre. Ob er seinen Namen sagen will, ist ihm überlassen. Ich selbst werde fast nie nach meinem Namen gefragt.

Nicht alle Gespräche drehen sich um die ganz schwierigen Themen, manche wollen auch nur ein bisschen quatschen. Deshalb ist so ein Gesprächsablauf sehr individuell: Wir Berater müssen uns mit jedem Anruf auf ein neues Thema einstellen. Manchmal trösten wir, hören nur zu, oder werden gebeten, Tipps zu geben. Lösungen für ein Problem schlagen wir aber nicht einfach nur vor, sondern entwickeln sie gemeinsam mit der Person am anderen Ende der Leitung. Nicht jede Lösung passt auch zu dem Individuum, das gerade ein Problem hat. Wir brainstormen also gemeinsam Ideen.

Ganz wichtig in der Beratung ist unsere Lotsenfunktion: Wir nennen zum Beispiel Kontaktdaten von Organisationen und Angeboten, die auf bestimmte Themen spezialisiert sind - beispielsweise bei häuslicher Gewalt. Um der oder dem Hilfesuchenden die Angst vor einer Kontaktaufnahme mit einer solchen Organisation zu nehmen, erklären wir zum Beispiel, wie deren Vorgehensweise ist.

Anononyminät an erster Stelle Wie anonym ist ein solches Telefonat?

N. P: Unsere Beratung am Telefon oder online ist einfach erreichbar, kostenfrei und anonym. Der Anrufer muss seinen Namen, wie gesagt, überhaupt nicht nennen. Die Beratung ist ein Safe Space. Wählt jemand die "Nummer gegen Kummer", taucht die in der Abrechnung später auch nicht auf. Und auch was er erzählt, bleibt unter uns. Häufig kommt tatsächlich die Frage, ob man bei uns wirklich über alles reden darf und auch wirklich niemand davon erfährt. Die Unsicherheit kann ich verstehen und erkläre, dass das Besprochene nicht weitererzählt wird.

Liebeskummer, Langeweile oder schlechte Noten - mit welchen Problemen ist man bei Ihnen an der falschen Adresse?

N. P: Ich würde es genau andersherum formulieren: Die Beratung ist offen - egal, worum es geht, wir sind da und hören zu. Auch wenn es um vermeintlich peinliche Themen geht, die man mit der Familie oder den Freunden nicht besprechen möchte, ist man bei uns genau richtig.

Bekommen Sie auch Scherzanrufe?

N. P: Allerdings - sehr, sehr viele. Wir nennen das "alternative Kontaktversuche". Für solche Anrufe ist manchmal Langeweile ein Hintergrund, oft aber auch, dass man uns testen will. Manchmal entwickeln sich aus solchen Scherzanrufen dann Gespräche, bei denen es um ernste Themen geht. Denn ein Scherzanrufer kann auf den zweiten Blick jemand sein, der sich nicht traut oder nicht die richtigen Worte findet. Zu testen, wer am anderen Ende der Leitung sitzt, bevor man sich ihm anvertraut, finde ich irgendwo auch verständlich.

Scherzanrufe und Beleidigungen

N. P: Das ist aber nicht immer erfreulich, gerade mit dem Hintergrund, dass dann unter Umständen die Leitung belegt ist und Ratsuchende mit einem dringenden Anliegen warten müssen. Darauf weisen wir dann auch hin, je nachdem wie das Telefonat verläuft. Ab und zu ruft jemand an, erzählt einen Witz und legt wieder auf. Leider gibt es aber auch Anrufer, die uns einfach nur beleidigen, das kommt auch vor.

Trotzdem finde ich es auch bei solchen Anrufen sehr wichtig, ranzugehen. Denn im Zweifel kann man am Ende immer noch mit auf den Weg geben: "Wenn mal etwas sein sollte, weißt du jetzt, wo du jemanden zum Reden findest."

Gibt es ein Telefonat, dass sich Ihnen besonders eingeprägt hat, etwa, weil es sie persönlich mitgenommen hat?

N. P: Grundsätzlich gibt es Gespräche, die einem stärker nachhängen als andere. Deswegen ist es auch ein wichtiger Teil der Ausbildung, zu lernen, mit so etwas umzugehen. Vielleicht ein Ritual zu entwickeln, mit dem man für sich mit belastenden Gesprächen abschließt und sie nicht mit nach Hause trägt. Mein Ritual ist es zum Beispiel, nach dem Arbeitstag meinen Platz am Schreibtisch aufzuräumen, meine Tee-Tasse wegzustellen und die Tür hinter mir abzuschließen, um einen inneren Schlussstrich zu ziehen.

Sich aber nach jedem Telefonat neu auf jemanden einzustellen, ohne dass das vorherige Telefonat noch nachhallt, ist etwas, das man lernen muss. Wenn einem Probleme auch im Nachhinein noch stark beschäftigen, können wir darüber im Rahmen einer Supervision sprechen.

Welche Themen beschäftigen oder belasten Sie persönlich im Nachhinein?

N. P: Da gibt es schon eine ganze Reihe. Wenn ich zum Beispiel mit jungen Menschen spreche, die in sehr schwierigen Verhältnissen leben, mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, Gewalt in der Familie, Missbrauchserfahrungen in sehr jungen Jahren erleben müssen. Oft bin ich sehr beeindruckt davon, wie viel Stärke solche jungen Menschen trotz dieser Erfahrungen mitbringen. Aber natürlich sind solche Gespräche immer sehr traurig.

Aber auch Gespräche zu Mobbing und Cyber-Mobbing bewegen mich immer sehr. Denn da merke ich, wie schwierig es für Kinder und Jugendliche ist, so etwas auszuhalten - immer wieder Beleidigungen ausgesetzt zu sein. Da ist oft die Lösung nicht leicht. Aber das Schöne ist, dass ich als Beraterin auch einfach durch das Zuhören und das miteinander Sprechen Entlastung bieten kann. Das heißt, selbst wenn man keine Lösung für ein Problem findet, merkt man doch, dass Gespräche helfen können.

Trost bei Missbrauchserfahrungen Was ist das für ein Gefühl, wenn ein ganz junger Mensch am Telefon von Missbrauchserfahrungen in der Familie erzählt und Sie nach dem Telefonat wissen: So erleichternd das Gespräch auch für ihn war - der geht jetzt wieder in diese Familie zurück und ich kann nichts machen?

N. P: Das kann schon extrem schwierig sein. In solchen Momenten hilft es, wenn man sich sagt: Das, was wir hier machen, ist wichtig und hilft. Wir sind - bei allem, was passiert - die Personen, bei denen diese Kinder und Jugendlichen Trost finden und sich aussprechen können.

Wie ist es für Sie, dass Menschen mit Problemen zu Ihnen kommen - und das Sie beim Telefonklingeln nie mit guten Nachrichten rechnen können?

N. P: Das stört mich tatsächlich gar nicht. Weil man bei vielen Gesprächen einen Schritt in eine positivere Richtung gehen kann oder man zumindest merkt, dass das Gespräch hilfreich ist. Außerdem hören wir auch immer mal wieder von Ratsuchenden, die sich noch einmal melden und bedanken. In der Online-Beratung gibt es zum Beispiel auch die Möglichkeit, längerfristig in Kontakt zu bleiben - in der Telefonberatung erfährt man nicht, wie es der Person ergangen ist.

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Die Rückmeldung von einer jungen Frau ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Sie ist in einer suchtbelasteten Familie aufgewachsen und hat uns geschrieben, als sie schon Studentin war. In ihrer Nachricht hat sie erzählt, dass sie uns immer dann angerufen hat, wenn es in ihrer Familie gerade besonders schlimm war und dass jedes einzelne Gespräch für sie wie ein kleiner Rettungsanker war. Sie hat nie weitere Hilfe in Anspruch genommen - obwohl die Berater es ihr vorschlugen - aber alleine die Gespräche mit unseren Beratern waren für sie eine wichtige Stütze. Über mehrere Jahre hinweg. Das hat sie uns nicht anonym geschrieben, sondern sich offen an uns gewandt, weshalb ich das überhaupt erzählen darf.

So etwas ist natürlich eine sehr schöne Bestätigung für unser Motto: "Darüber reden hilft."

Wer sind eigentlich die Beraterinnen und Berater bei der Nummer gegen Kummer?

N. P: Wir alle sind speziell ausgebildete Ehrenamtliche, beraten also nach Feierabend oder - im Falle einiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die schon in Rente sind - in unserer Freizeit und ohne dafür bezahlt zu werden. Bei uns arbeiten auch Väter oder Mütter, die gerade in Elternzeit sind oder Personen, die nur halbtags arbeiten. Wir machen Schichtdienst von zwei, drei oder vier Stunden.

"Jugendliche beraten Jugendliche"

Besonders schön ist auch das Projekt "Jugendliche beraten Jugendliche", das gibt es schon seit 1994. Immer samstags sitzen Jugendliche im Alter von 16 bis 21 an den Telefonen. Das Angebot ist für Ratsuchende gedacht, die lieber mit Gleichaltrigen über ihre Situation reden wollen.

Die Menschen, die bei uns beraten, kommen auch schon eher aus Studien- und Berufsrichtungen, die grob gesagt Ähnlichkeiten mit der Arbeit bei der "Nummer gegen Kummer" haben: Studierende der Psychologie zum Beispiel oder Lehrer, die gerade in den Ruhestand gegangen sind. Aber insgesamt kann man sagen, dass es einfach Leute sind, die sich für Menschen und ihre Themen und Probleme interessieren.

Die Teams von der "Nummer gegen Kummer" sind in ganz Deutschland verteilt und telefonieren nicht etwa von zu Hause aus, sondern aus Beratungsbüros. Um die Anonymität der Ratsuchenden sichern zu können, ist es eben auch nur in diesem Büro möglich - in der Telefonberatung gibt es also kein Homeoffice.

Wenn man jetzt Lust bekommt, selbst Beraterin oder Berater bei der Nummer gegen Kummer zu werden - was steht einem da bevor?

N. P: Zuallererst würden wir uns natürlich sehr darüber freuen, wenn neue Leute dazustoßen. Welche Schritte man da genau gehen muss, kann man auf unserer Website unter "mitmachen" nachlesen.

Zuerst sucht man sich den nächstgelegenen Standort, wo dann die Ausbildung zum Berater oder zur Beraterin erfolgt. Diese Ausbildung umfasst 70 bis 100 Stunden und man beschäftigt sich zum Beispiel mit verschiedenen Techniken der Gesprächsführung und Themen, die in Beratungsgesprächen womöglich angesprochen werden. Am Ende durchläuft man noch eine Hospitationsphase, man schaut erfahrenen Beraterinnen und Beratern über die Schulter. Die Ausbildung sichert die Qualität der Beratungsgespräche - und ich habe daraus auch sehr viel für mein Privatleben mitnehmen können, gerade was Gesprächsführung angeht.

Themen und Statistiken

Wenn du dich jetzt dazu berufen fühlst, ebenfalls Berater*in bei der "Nummer gegen Kummer" zu werden oder einfach nur mehr erfahren möchtest, interessiert dich eines sicherlich besonders: Die Statistiken der Telefonate. Hier sind die Ergebnisse der Statistik von 2019.

Ganze 471.669 Anrufe wurden entgegengenommen - davon entwickelten sich 99.229 zu Beratungen (21,03 Prozent). Der Rest waren "alternativen Kontaktversuche" (40,2 Prozent) und "Aufleger" (24,3 Prozent). Die anderen Kategorien - Schweigeanrufe, verwählt, sexuelle Belästigung der Mitarbeiter, Dank/Rückmeldungen zu früheren Gesprächen und Info über das KJT - machen zusammen 14,4 Prozent aus Im Juli gingen mit Abstand die meisten Anrufe ein Mehr als 44 Prozent derTelefonate dauern nur etwa fünf Minuten. 1,4 Prozent der Telefonate gehen über eine Stunde. 5.725 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund riefen an - das sind nur 5,8% aller Anrufer (34,7 Prozent machten keine Angaben über ihren Backround) Es riefen mehr Jungen als Mädchen an: 59.898 Jungen (60,4%) und 38.348 Mädchen (38,6%) und 5 Jugendliche ohne Geschlechtspräferenz Die meisten weiblichen Anruferinnen waren zwischen 13 und 14 (27 Prozent), die meisten männlichen 19 oder älter (25 Prozent) Die meisten Anrufer hatten ein Problem mit sich selbst (60 Prozent), 24 Prozent ein Problem mit anderen Kindern und Jugendlichen und 16 Prozent ein Problem mit Erwachsenen

Und hier ein Überblick über die angesprochenen Themen:

Das Kinder- und Jugendtelefon der "Nummer gegen Kummer" erreichst du unter: 116 111 von Montag bis Samstag in der Zeit von 14-20 Uhr und nun auch zusätzlich montags, mittwochs und donnerstags von 10-12 Uhr.

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Quelle: Noizz.de

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