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Anschläge von Paris: Erwartungen an den Jahrhundertprozess

Französische Gendarmen patrouillieren vor Beginn des Prozesses vor dem Justizpalast, dem Pariser Gerichtsgebäude. Foto: AFP/dpa

Am 13. November 2015 kamen bei Anschlägen in Paris 130 Menschen ums Leben. Der Prozess beginnt heute. Was die Opfer des Terrors von ihm erwarten.

Bevor Grégory Reibenberg über den Prozess um die Anschläge von Paris spricht, streicht er sich mit seinen Händen übers Gesicht. Dann atmet er tief durch. Er sagt: "Der Prozess ist unerlässlich. Unsere ganze Zivilisation war von den Attentaten betroffen. Wir wurden angegriffen, weil sich auf den Terrassen das Leben abspielt."

Reibenberg ist Gastronom, Vater - und Witwer. Am 13. November 2015 haben Terroristen auf der Terrasse seines Bistros "La Belle Équipe" in der Rue de Charonne 20 Menschen ermordet. Er überlebte, die Mutter seiner heute 14-jährigen Tochter Tess starb.

Der aufwendigste Prozess, den es jemals in Frankreich gab

Diesen Mittwoch schaut Reibenberg wie ganz Frankreich auf den Pariser Justizpalast, wo der Jahrhundertprozess gegen die mutmaßlichen Täter und ihre Helfer der Anschläge vom November 2015 beginnt: Am 13. November 2015 kamen in der Konzerthalle Bataclan, am Stade de France und auf Terrassen in Paris 130 Menschen ums Leben, mehr als 350 wurden verletzt. Reibenbergs Terrasse war einer der Anschlagsorte.

Fast sechs Jahre später startet nun in einem eigens errichteten Gerichtssaal im Justizpalast ein Prozess, dessen Ausmaße gewaltig sind: Mit Tochter Tess ist Reibenberg einer von 1.800 Nebenklägern, dazu kommen mehr als 350 Anwälte. Ein Urteil wird nicht vor Ende 2022 erwartet.

Aufarbeitung - auch von Versagen der Behörden

Viele Angehörige und Opfer versprechen sich von dem Verfahren Aufschluss darüber, wo vor den Anschlägen staatliche Institutionen wie Regierung, Polizei und Geheimdienste Fehler gemacht oder Versäumnisse begangen haben.

Hohe Erwartungen haben auch die Opferanwältinnen Alexia Gavini und Leslie Mankikian, die Reibenberg im Prozess vertreten. "Die Herausforderung des Prozesses besteht darin, zu verstehen, was damals passiert ist", sagt Gavini dem ZDF. Vielleicht am wichtigsten aber ist aus ihrer Sicht der psychologische Aspekt: damit die Opfer nach vorne blicken und sich eingestehen können, dass der Schmerz in Ordnung ist.

Wir erwarten, dass es so etwas wie Gerechtigkeit geben wird.
Alexia Gavini, Opferanwältin

Viele Opfer sind jetzt schon vom Prozess überfordert

Diese Entwicklung hat auch Olivier Laplaud durchgemacht. Der Bataclan-Überlebende ist Vizepräsident der Opfervereinigung "Life for Paris" und in diesen Tagen ein viel gefragter Mann. Gerade kommt er von einem Interview mit einem australischen Fernsehsender.

Laplaud weiß, wie unterschiedlich die Überlebenden mit dem Jahrhundertprozess umgehen: "Es gibt welche, die nichts von dem Prozess hören und nicht daran teilnehmen wollen, und andere, die jeden Tag hingehen wollen." Viele würde die Allgegenwart des Prozesses schon jetzt überfordern.

Terroristen um Abdeslam haben ein nationales Trauma ausgelöst

Um die Dimensionen weiß auch Hélène Miard-Delacroix, Professorin für Zeitgeschichte an der Sorbonne Université in Paris. Jeder Franzose hätte sich damals vorstellen können, entweder selbst vor Ort zu sein oder die eigenen Kinder als Opfer zu haben.

Das hatten die Täter so beabsichtigt. Sie wollten die Gesellschaft verunsichern und wirklich ins Herz treffen.
Hélène Miard-Delacroix, Professorin für Zeitgeschichte an der Sorbonne Université in Paris

Von diesen mutmaßlichen Tätern wird sich im Justizpalast nur Salah Abdeslam einfinden, nur er lebt von dem islamistischen Kommando noch. Monate später war Abdeslam in Brüssel gefasst worden - und hat seitdem jede Aussage verweigert. Was die Staatsanwaltschaft für ihn fordern wird: lebenslänglich ohne Möglichkeit frühzeitiger Entlassung. In Frankreich sind das 30 Jahre. 13 weitere Komplizen werden anwesend sein, andere werden noch in Syrien vermutet oder sind gestorben.

Nebenkläger in einem Jahrhundertprozess

Mit Blick auf die Angeklagten ist Olivier Laplaud von "Life in Paris" eines besonders wichtig.

Es geht uns darum, ein beispielhaftes und würdiges Verfahren anzustreben. Das ist die beste Antwort, die wir auf diese Barbarei geben können.
Olivier Laplaud von "Life in Paris"
Der Bistro-Inhaber Grégory Reibenberg möchte seiner Tochter Tess diese Antwort ermöglichen. Lange Zeit wollte er in einem Prozess um die Anschläge nicht als Nebenkläger auftreten, erst im vergangenen Jahr änderte er seine Meinung. Er verstand, dass es dabei nicht nur um ihn als Opfer geht - sondern auch um seine Tochter, die nun ohne ihre Mutter aufwächs.

Sie möchte an diesem "für Frankreich lebenswichtigen" Prozess teilnehmen, wie Reibenberg es ausdrückt. Und genau das wird er mit seiner Tochter ab heute machen.




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