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Die späte Rache der Esther Bejarano

Ungewöhnlicher Abend mit Esther Bejarano im Lindenkeller: Die Auschwitz-Überlebende hat für ihre Auftritte die Musik und das Lachen entdeckt. (Foto: Marco Einfeldt)

Die heute 94-Jährige war in Auschwitz. Bei ihrer Lesung erzählt, lacht, singt und tanzt sie. Das ist ihre Art, Menschen mit ihrer Geschichte zu erreichen.

Bühne kann sie. Am Arm ihres Sohnes Joram betritt Esther Bejarano langsam die Bühne, setzt sich. Mit nur wenigen Worten hat die 94-Jährige die Menschen im Lindenkeller für sich eingenommen, unterbrochen durch spontanen Zwischenapplaus. Dann der Bruch: Die kleine, zierliche Frau beginnt zu lesen. Stille.

"Nach ein paar Tagen nicht beschreibbaren Erlebens hielt der Zug endlich. Am 20. April 1943. Die Türen der Waggons wurden geöffnet." Esther Bejarano ist eine der letzten Zeitzeuginnen der Verbrechen des Naziregimes, hat im Mädchenorchester von Auschwitz das Konzentrationslager überlebt. Die Geschichte ihres Lebens handelt vom Schlimmsten, was Menschen anderen Menschen antun können - und von der Liebe zum Leben, die sie auch in Freising ausstrahlt.

Unterwegs mit der Hip-Hop-Band Microphone Mafia

Die 94-Jährige war am Sonntag und Montag in der Domstadt zu Besuch: Im ausverkauften Lindenkeller trat sie für eine Lesung und ein Konzert mit der Hip-Hop-Band Microphone Mafia auf, im Rathaus sprach sie mit Freisinger Schülern. Eingeladen dazu hatten die Stadt Freising und der Kreisverband Freising-Moosburg der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).

1924 in Saarlouis geboren, wird die damals 18-Jährige im April 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Auf einem Feld außerhalb des Lagers musste Bejarano mit anderen Frauen große Steine zusammentragen. "Wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, aus dieser Kolonne herauszukommen, wäre ich elendig zugrunde gegangen."

Der Platz im Mädchenorchester rettet ihr Leben

Die Musik hat ihr einst das Leben gerettet. Esther Bejarano spielte für das Mädchenorchester des Lagers vor: Auf dem Akkordeon - einem Instrument, das sie zuvor nie in der Hand gehabt hatte. Denn nur damit konnte man sie im Orchester gebrauchen. "So versuchte ich, den deutschen Schlager 'Du hast Glück bei den Frau'n, Bel Ami' zu spielen, der mir damals befohlen wurde. Es gelang mir, die richtigen Akkorde zu treffen." Bejarano berichtet, wie das Orchester morgens und abends am Tor Märsche spielen musste, wenn Arbeitskolonnen vorbeigingen "und wenn neue Transporte ankamen, die für die Gaskammern bestimmt waren".

Nachdem sie ins Konzentrationslager Ravensbrück verlegt worden war, erlebte sie am 3. Mai 1945 in Lübz in Mecklenburg-Vorpommern die Befreiung durch US-amerikanische Soldaten: Dieser Tag sei wie eine zweite Geburt gewesen, sagt Bejarano.

Viele Zeitzeugen gehen in Schulen, lesen aus ihren Memoiren. Esther Bejarano hat die Musik und das Lachen für sich entdeckt, um ihre Geschichte zu erzählen. Eingerahmt von Sohn Joram und dem inzwischen "eingeenkelten" Musiker Kutlu Yurtseven, erhebt sich die 94-Jährige und fängt an, mit ihnen zu singen. Die Liederauswahl für diesen Abend ist so vielfältig wie ihr Leben: Das Lied "Schalom" ist die Hymne der außerparlamentarischen israelischen "Frieden jetzt"-Bewegung, das Lied "Sage nie, du gehst den letzten Weg" wurde vom jiddischsprachigen Dichter Hirsch Glik 1943 als Partisanenhymne gegen die NS-Terrorherrschaft geschrieben.

Wie schon in Auschwitz singt sie den Schlager "Bel Ami"

Jede Bewegung, jeder Satz von Bejarano wird aufmerksam verfolgt: Als sie mit Kutlu Yurtseven noch eine spontane Tanzeinlage zum Besten gibt, ist die Begeisterung bei den Freisingern groß. Es folgen das vertonte Gedicht "Ballade der Judenhure Marie Sanders" von Bertolt Brecht - sowie der deutsche Schlager "Bel Ami", den sie damals in Auschwitz spielen musste. Bejarano steht aufrecht da, als sie ihn ankündigt. Mit fester Stimme bittet sie das Publikum mitzusingen - "und zwar laut", schiebt sie hinterher.

Seit 2009 tritt Bejarano mit der Band Microphone Mafia auf, hat allein in den vergangenen drei Jahren rund 300 Konzerte gegeben. Warum sie sich das antut? Von ihrer Geschichte zu erzählen und Musik zu machen, sei ihre späte Rache an den Nazis, sagt sie. Kutlu Yurtseven drückt es so aus: "Der Widerstand heute braucht nicht den erhobenen Zeigefinger, keine Betroffenheit, sondern Lachen im Gesicht und im Herzen. Denn nur so werden wir Menschen erreichen. Und darum lachen wir. Lachen hilft."

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