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Die Probleme wegtanzen

Von dem Platz zwischen Fernsehturm und St.-Marien-Kirche dröhnen laute Elektrobeats. Zum Rhythmus der Musik springen Jugendliche auf einem Bein und kicken dabei das andere Bein nach vorn oder hinten. Darauf folgt springend eine schnelle Drehung. Beim nächsten Sprung kreuzen sie die Beine und kicken wieder ein Bein nach vorn. Die Jugendlichen tanzen Jumpstyle.

Zwischen ihnen steht Benjamin Loyda: rote Sneakers, blaue Jacke und manchmal ein Basecap. Von den Jugendlichen nur Benni genannt, ist er ein Teil der Gruppe. Wer von außen kommt, ahnt nicht, dass Loyda Sozialarbeiter und Streetworker ist. Doch ganz unterschwellig leistet der 27-Jährige Hilfestellung bei vielen Problemen.

Loydas Projekt "Perspektive & Hoffnung" des Vereins Freestyle e. V. wurde am Freitag mit dem Bernhard-Vogel-Bildungspreis" ausgezeichnet. Dieser wird jährlich von den Altstipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung vergeben und zeichnet Projekte für Kinder- und Jugendliche aus, die deren kulturelle und soziale Weiterentwicklung unterstützen.

Vor sechs Jahren erkannte Loyda zufällig, dass sich hinter dem Alexanderplatz ein sozialer Brennpunkt entwickelt hatte. Dort trafen sich viele Jugendliche, tanzten und waren oft auf sich allein gestellt. Der Sozialarbeiter begann, Kontakt zu suchen: "Ich habe gesehen, dass die Jugendlichen Begleitung brauchen, und deshalb bin ich auf den Jumpstyle-Zug mit aufgesprungen", so Loyda. Lange war der Streetworker ehrenamtlich vor Ort, bis er mit Kollegen 2010 den Verein Freestyle e. V. gründete. Seitdem finanziert sich die ambulante Jugendhilfe am Alexanderplatz durch Spenden.

Wenn sich die Jugendlichen samstags treffen, ist auch Loyda vor Ort. Der Sozialarbeiter bringt eine gute Anlage für die Musik mit, belegte Brötchen und im Winter heißen Tee. Sie tanzen gemeinsam, besprechen Sorgen und Probleme. Ein Großteil der 15- bis 25-Jährigen ist im Heim aufgewachsen oder hat Schwierigkeiten mit den Eltern – egal, aus welchem sozialen Umfeld die jungen Leute kommen. Drogen, Arbeitslosigkeit und ungewollte Schwangerschaften, all das sei immer wieder Thema.

Freestyle e. V., im Dachverband der Diakonie verankert, möchte christliche Werte vermitteln. Daher heißt der Slogan: einer jungen Generation Vertrauen schenken. "Die Jugendlichen brauchen Hoffnung. Das ist schichtunabhängig. Durch das Tanzen erkennen sie, dass sie wertvoll sind und sie sich etwas zutrauen können. Viele haben das von ihren Familien nicht vermittelt bekommen. Wir hören zu, egal wer und wie sie sind", erklärt Loyda seine Arbeit. Anlaufstellen für Probleme gäbe es viele, doch das Wissen darum und der Mut sich zu öffnen seien gering. Wo Loyda nicht selbst weiterhelfen kann, telefoniert er, vermittelt an Beratungsstellen und zeigt neue Wege auf. "Wir glauben, dass, wenn man den Jugendlichen die richtige Frage stellt, sie allein auf eine Perspektive kommen, die sie vorher nicht hatten." Vorschriften macht Loyda kaum welche – mit zu vielen waren die Jugendlichen schon konfrontiert.

Um die Tanzleidenschaft der Jugendlichen zu unterstützen, organisiert der Verein Tanzwettbewerbe und Klubnächte. Danilo tanzt schon viele Jahre in der Gruppe und organisiert mit. Der 23-Jährige weiß, dass die Liebe zur Musik alle Jugendlichen miteinander verbindet. Auch Streetworker Benjamin Loyda ist für Danilo ein wichtiges Mitglied der Gruppe: "Benni ist wie die helfende Hand, die man im Leben braucht und die einem eine Welt zeigt, die funktioniert."

Donnerstags bietet der Verein einen Brunch für alle nicht-schulpflichtigen Jugendlichen. Außerdem lädt Freestyle e. V. jeden Mittwochabend zum Burgeressen in ein Fast-Food-Restaurant ein. Loyda sucht dafür mit den Jugendlichen nach christlichen Themen, spricht beim Essen Stellen aus der Bibel an, in denen Gott den Menschen seine Wertschätzung zeigt. "Viele haben mit der Kirche nichts am Hut. Deshalb haben wir bewusst einen so unfrommen Ort wie ein Fast-Food-Restaurant gewählt", sagt er.

Als sich vor zwei Jahren ein Tänzer der Gruppe unerwartet das Leben nahm, war auch der Tod ein Thema im Fast-Food-Restaurant. Viele Jugendliche suchten Hilfe bei dem Sozialarbeiter, um mit dem Verlust zurechtzukommen: "Ich konnte eine Perspektive geben, die die Jugendlichen nicht im Dunkeln stehen lässt, sondern ihnen Hoffnung und Licht gibt."

Von den 2500 Euro Preisgeld des Bernhard-Vogel-Bildungspreises möchte der Verein mit den Jugendlichen Tanz- und DJ-Workshops organisieren, woraus ein eigenes Musikvideo entstehen soll. Hauptdarsteller sind die Jugendlichen, die zeigen können, wie viel Talent in ihnen steckt. Doch Loyda denkt noch weiter: "Ein Jugendzentrum ist unsere große Vision. Ein Ort, wo alle Jugendlichen gern hingehen und Spaß haben, aber wir gleichzeitig mit Beratung und Hilfe zur Seite stehen." Denn das würde eines der größten Probleme lösen, womit der Streetworker zu kämpfen hat: Die Zeit zwischen dem Aufkommen der Probleme und dem Zeitpunkt des "Sich-Hilfe-Holens" verkürzen.


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