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Drahtseilakt: Für Klicks und Follower in den Tod

Es ist eines seiner typischen Videos: Mit einem Hoverboard fährt Wu Yongning auf der Kante entlang, neben ihm ein 200 Meter tiefer Abgrund. Dann wieder legt sich der Chinese auf einen Dachbalken eines Wolkenkratzers, den Selfiestick fest in der Hand. Er lässt sich an der Dachkante herunterhängen, macht Klimmzüge.  

Tausende sahen dem jungen Chinesen immer via Internet bei seinen selbstmörderischen Abenteuern zu: Auf dem chinesischen Twitter-Äquivalent Weibo und auf YouTube folgten ihm jeden Tag mehr Menschen.

Wu Yongning in einem seiner Wolkenkratzer-Videos.

An einem Tag vor wenigen Wochen dann ging die Sache schief: An der Dachkante des "Huayuan International Centre" in der chinesischen Stadt Changsa schwang sich der 26-Jährige für eine "Challenge" gekonnt vom Dach des 62. Stocks und setzte zum Klimmzug an. 

Auf und ab, auf und ab. Beim dritten Versuch konnte sich Wu Yongning nicht mehr hochziehen. Seine Füße suchten Halt, sein Blick ging nach unten, dann verließ ihn die Kraft. Er ließ los. Das Video davon, immer noch im Netz zu finden, ist verstörend. 

Seine Leiche wurde später auf einer Terrasse des Wolkenkratzers gefunden. Wu Yongning: gestorben für Klicks, Follower und etwas Geld.

Der illegale Kick

Er war einer der sogenannten Rooftopper oder Roofers im Internet. Es sind junge Menschen aus aller Welt, die den Adrenalinkick suchen und Follower in den sozialen Medien gewinnen wollen. 

Sie klettern illegal auf die Dächer oder gar die Antennen hoher Gebäude, machen dort Fotos und Videos, die in den sozialen Medien schnell viral gehen. Sie werden auch "Daredevils" genannt, Draufgänger, die für atemberaubende Selfies ihr Leben riskieren.

In China ist der Trend des Rooftoppings noch jung. Möglichkeiten gibt es viele.

Denn sie klettern ohne Sicherheitsausrüstung, meist nur in Turnschuhen und T-Shirt in Hunderten Meter Höhe, in einer Hand einen Selfiestick, auf dem Kopf ein Stirnband mit GoPro-Kamera, die den Aufstieg filmt.

Je gefährlicher das Foto, desto mehr Likes.

Das Geschäft mit dem Risiko funktioniert. Die Follower feiern jedes Bild, belohnen jedes Selfie mit Likes und Anerkennung. 

Wer große Reichweiten auf Instagram oder YouTube erzielt, kann damit Geld verdienen. Die Londoner Gruppe "NightScape" verkauft Poster ihrer Rooftopping-Bilder im Netz. Die russische Gruppe "Crazy Russians" verdient mit Produktplatzierungen Geld: In einem Wolkenkratzervideo lutschen sie für Chuppa Chups einen Lolly. 

Auch Wu Yongning soll für die tödliche Klimmzug-"Challenge" ein Preisgeld von 100.000 Yuan versprochen worden sein, rund 13.000 Euro, wenn das Video viral ginge. Sponsor unbekannt.

Nichts für Menschen mit Höhenangst: Mehr als 1,2 Millionen sahen sich das "Craziest Selfie" an.

Hoch hinaus

Auch das deutsche Gesicht der Rooftopper-Szene dürfte mit seinem Hobby gut verdienen: Andrej Ciesielski. 20 Jahre, Münchner, auf den Dächern der Welt unterwegs: Man sieht ihn auf dem Central Plaza, Hongkong, in 340 Meter Höhe, dann ein Selfie auf dem Jim Mao Tower, 420 Meter, dem dritthöchsten Wolkenkratzer in Shanghai, oder auf der New Yorker Brooklyn Bridge, 206 Meter. 

Mit einem Foto schaffte es Ciesielski sogar in die internationalen Schlagzeilen: Der Rooftopper hatte illegal die Cheops-Pyramide erklommen.

2015 kletterte Andrej Ciesielski auf eine der Pyramiden.

Fast 97.000 Follower auf Instagram liken seine Bilder. Auf einem Foto hält der junge Kletterer eine Jekyll-&-Hyde-Uhr in die Kamera. Mit dem Code "Andrej" bekämen seine Follower 15 Prozent Rabatt, hieß es - Produktplatzierung in luftiger Höhe. Aber zu welchem Preis?

Mit einer Kamera filmt Ciesielski seine gefährliche Klettertour mitten in Hongkong.

Zu viel gewagt

Wu Yonghin war nicht das erste Todesopfer der Szene: Im Sommer 2015 starb der 17-jährige Russe Andrej Retrovsky, als er für ein Instagram-Foto posierte. Nur mit einem Arm hängte sich der Jugendliche an das Flachdach eines Wohnhauses in Wologda und tat so, als würde er hinunterfallen. Aber dann fiel er wirklich und starb. Er war das dritte russische Todesopfer. 

Wenige Monate später fiel der Amerikaner Connor Cummings in den Tod. Zusammen mit einem Freund machte der 20-Jährige Fotos der New Yorker Skyline – auf einem Gerüst oberhalb des 52. Stockwerks des Four Season Hotel in Manhattan. Cummings machte einen Schritt zu viel nach hinten. 

Dennoch wächst die Szene: Nicht nur in China und Japan ist der illegale Trend verbreitet, allein in Russland soll es mittlerweile mehr als 50 ernst zu nehmende Roofer geben. 

Der Bauboom der vergangenen Jahre bescherte vielen russischen Städten hohe Häuser. Die Sicherheitskontrollen sind meist lax, die Security-Mitarbeiter machtlos. Und wenn die Draufgänger doch erwischt werden, erwartet sie im schlimmsten Fall eine geringe Geldstrafe. Die Hürden sind niedrig, die Anerkennung groß. Für viele Jugendliche ein schneller Weg zu Ruhm und Geld. 

Laut chinesischen Medienberichten wollte Wu Yongning am Tag nach dem Unglück bei den Eltern seiner Freundin um deren Hand anhalten. Mit dem Preisgeld wollte er die Hochzeit bezahlen.


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